Donnerstag, 9. Oktober 2008

Schwarze Liste für das Telemarketing

Sao Paulo ist uns mal wieder einen Schritt voraus. Und wenn ich die Paulistanos weder um ihr Verkehrschaos, noch um ihre Luftverschmutzung beneide – die neue Liste hätte ich hier in Pernambuco auch gern. Weil ungefähr jeden zweiten Tag bei mir das Telefon klingelt. Nein, viel öfter klingelt der Festnetz-Apparat tatsächlich nicht: Privatmenschen haben Handys und deutsche Redaktionen kommunizieren per Mail.

Die meisten meiner Festnetz-Gespräche verlaufen etwa so: Eine sanfte Stimme säuselt „Guten Tag, mein Name ist Sheila, spreche ich mit Christine?“ Der Namenstrick weckt sofort im wehrlosen Unterbewusstsein eine Resthoffnung darauf, dass es um mich gehen könnte, in diesem Telefonat. Also lege ich nicht gleich auf. Und sage, „Ja, Sie sprechen mit Christine, worum geht es denn?“ Es geht um mein Geld. Immer. In den meisten Fällen wollen die Sheilas des Telemarketing mir eine Kreditkarte andrehen. Und wenn ich sage, „habe ich schon“, werden sie erst richtig heiss. So eine Sheila loszuwerden, kann dauern, schließlich sind sie darauf trainiert, sich nicht abwimmeln zu lassen. Mir ist dabei schon so mancher Kaffee übergekocht, Reis angebrannt oder Schlaf vergangen.

Wohnte ich in Sao Paulo, hätte ich demnächst Ruhe. Keine Sheilas mehr. Gestern hat der Gouverneur ein Gesetz unterschrieben, das eine schwarze Liste für Telemarketing vorsieht: Wer sich darauf einträgt, darf nicht mehr angerufen werden. Kein fröhliches Drauflos-Wählen für die Sheilas mehr, in Sao Paulo müssen sie bald erst auf die Liste gucken. Wer dann noch angerufen wird, ist selbst schuld – oder darf vor Gericht gehen, falls irgendein übereifriger Werber den Namen auf der Liste übersehen hat. Die Strafhöhen werden in den nächsten Wochen fest gesetzt. Ob andere Bundesstaaten planen, ähnliche Gesetze einzuführen, ist leider bislang nicht bekannt.

Heute habe ich eine Rundmail bekommen. So eine, die schon von weitem nach Virus riecht, weil die cc-Liste so lang ist. Ich habe sie trotzdem geöffnet, weil im Betreff stand: „Rache dem Telemarketing“. Hat sich gelohnt. Als mich wenig später eine Lygia anrief, die mir eine Kreditkarte andrehen wollte, habe ich gesagt. „Oh, das interessiert mich sehr. Ich habe nur gerade einen Topf auf dem Herd stehen, könnten Sie bitte kurz dran bleiben?“ Natürlich konnte Lygia dran bleiben. Ich habe erst mal in Ruhe Kaffee getrunken, Wäsche gewaschen und Blumen gegossen. Gelegentlich habe ich vorsichtig den Hörer hochgehoben, um zu lauschen, ob Lygia noch wartet. Sie hat eine halbe Stunde ausgehalten, dann war sie weg. Fand ich beinahe ein bisschen schade. Deswegen habe ich beschlossen, das System zu perfektionieren. Diese Wartezeit lässt sich sicher noch steigern, durch kurze Zwischenbescheide, wie bei den Firmenwarteschleifen, etwa so: „Nur noch einen Moment Lygia, ich komme sofort…“.

Ich hoffe schon den ganzen Tag, dass das Telefon klingelt und mich eine Sheila anruft. Hoffentlich hat Lygia mich nicht auf eine schwarze Liste gesetzt. Sie hat aus Sao Paulo angerufen, und da sind sie uns ja immer einen Schritt weiter.

Sonntag, 5. Oktober 2008

Prost auf die Demokratie

Heute ist hier im Ort schon seit morgens Party. Die ganze Hauptstraße entlang sitzen die Menschen auf den Bürgersteigen und trinken und lachen und diskutieren. Heute sind Kommunalwahlen, und eigentlich ist es hier im Bundesstaat den ganzen Tag verboten, alkoholische Getränke zu verkaufen. Vielleicht haben sich die fröhlichen Feierer schon vorher mit Bier und Schnaps eingedeckt und jetzt Kühltaschen mitgebracht?

Vielleicht ist das Trinken aber auch ihre Art, sich über die gezwungene Ausübung der Demokratie lustig zu machen, nach dem Motto: Wenn ich schon wählen muss, wähle ich eben betrunken. In Brasilien müssen alle Menschen zwischen 18 und 70 Jahren wählen gehen. Das ist seit 1932 so, und dementsprechend haben wir hier Wahlbeteiligungen von 85 Prozent – die laut Untersuchungen auf 55 Prozent absinken würde, wäre das Wahlrecht freiwillig auszuüben. Wer weder wählt, noch sein Nicht-Wählen ordentlich entschuldigt, darf sich nicht auf öffentlich ausgeschriebene Stellen bewerben, keinen Personalausweis oder Reisepass beantragen – oder muss eine Strafe von bis zu 45 Reais zahlen. Das sind umgerechnet weniger als 20 Euro, aber so weit hat vermutlich niemand das Gesetz gelesen. (Lei 4737/65. art 7º).

Wer nicht lesen kann, muss übrigens nicht wählen: Analphabeten sind von der Wahlpflicht ausgenommen. Warum? Ist mir unbekannt. Theoretisch sind sie auch nicht wählbar, so steht es jedenfalls in der Verfassung. Die Christliche Soziale Partei (PCS) findet, dadurch würden die 16 offiziell registrierten Millionen Analphabeten des Landes benachteiligt. Vielleicht wird also demnächst diese Bestimmung der Verfassung als nicht verfassungskonform erklärt. Die Analphabeten unter den Kandidaten müssten sich natürlich auch nicht so blauäugig outen, wie das in diesem Jahr zwei Bürgermeisterkandidaten, 15 Kandidaten für Vizebürgermeister und 294 Gemeinderatskandidaten getan haben, die offen zugeben, weder lesen noch schreiben zu können. Weitere 76.000 Kandidaten haben keinen mittleren Schulabschluss – darunter sind sicher auch noch ein paar funktionale Analphabeten versteckt.

Der Spitzenkandidat hier in Recife kann sicher lesen und schreiben – immerhin wäre seine Kandidatur beinahe daran geplatzt, dass seine Mitarbeiter im Erziehungssektor der Stadt per Mailkampagne für ihren Chef als künftigen Bürgermeister geworben haben. Ein öffentliches Amt und die damit verbundenen Privilegien für den Wahlkampf zu nutzen, ist gesetzeswidrig. Joao behauptet frech, alle seine Mitarbeiter haben freiwillig und spontan ihre positive Meinung über den Chef verbreitet, er habe da keinen Einfluss drauf gehabt. Resultat: Joao bleibt wählbar, und es sieht ganz so aus, als werde er der neue Bürgermeister. Mit noch mehr Mitarbeitern, auf die er keinen Einfluss haben wird. Dann doch lieber einen Analphabeten? Oder nicht wählen und Strafe zahlen? Oder gleich einen trinken gehen?

Inzwischen ist es übrigens draußen noch ein bisschen lauter geworden: Seit 18 Uhr ist der Alkoholverkauf wieder erlaubt und es kann Nachschub besorgt werden. Prost auf die Demokratie!
 
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