Das Schöne an den Brasilianern ist, daß sie so gut vergeben und vergessen können. Sie sind absolut nicht nachtragend. Vielleicht haben sie auch einfach nur ein schlechtes Gedächtnis. Ein brasilianisches Sprichwort sagt, „wer keine Seiten umblättern will, ist es nicht wert, das Buch zu lesen.“ Die Brasilianer blättern fleißig um. Manchmal vergessen sie darüber sogar, das Buch zu lesen.
Ein besonders schönes Beispiel für das schwache Gedächtnis – oder für das großzügige Vergeben und Vergessen - des brasilianischen Volkes ist die Liste der Kandidaten, die soeben in den Senat und ins Abgeordnetenhaus gewählt wurden. Jeder zehnte der Abgeordneten ist irgendwelcher Unregelmäßigkeiten verdächtig, gegen 35 der 513 laufen Gerichtsverfahren – und mancher Hauptdarsteller der jüngsten Skandale ist vertreten: Die Brasilianer haben Ex-Minister Palocci gewählt, der wegen Korruptionsvorwürfen vor kurzem zurücktreten mußte. Sie haben den Ex-Chef der Arbeiterpartei PT gewählt, der ebenfalls wegen Korruptionsvorwürfen aus dem Amt entlassen wurde. Und sie haben den aktuellen PT-Parteichef gewählt, den Lula wenige Tage vor der Wahl als „Bandit“ beschimpft hat, weil er in den Dossier-Skandal verwickelt ist.
Mit überwältigender Mehrheit haben sie übrigens auch Fernando Collor in den Senat gewählt. Genau, den Ex-Präsidenten. Der 1992 wegen Korruptionsvorwürfen durch ein Impeachment abgesetzt wurde. Aber nach all den Jahren ist Collor ein anderer Mensch und kehrt „mit reinem Gewissen und gewaschener Seele“ in die Hauptstadt Brasilia zurück, wie er sagt.
Das ist die andere Seite des Vergebens und Vergessens: Mit Schuldgefühlen plagen sich brasilianische Politiker auch nicht lange. Präsident Lula kommentierte seine Niederlage im ersten Wahlgang wie folgt: „Jetzt werden wir einen gerechteren und ehrlicheren Wahlkampf haben. Und der zweite Wahlgang bietet auch bessere Voraussetzungen für die Debatte.“ Debatte? Hatte der Präsiden da nicht blau gemacht? Zum nächsten TV-Duell wird er wohl hingehen müssen. Sonst erinnert sich womöglich irgend jemand daran, was Herausforderer Alckmin gestern gesagt hat: „Lula hat seine Chance gehabt, und er hat sie vertan.“
Mittwoch, 4. Oktober 2006
Montag, 2. Oktober 2006
Wenn das brasilianische Herz schmerzt
„Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, sagen die Deutschen. Bei den Brasilianern heißt das „was die Augen nicht sehen, spürt das Herz nicht“.
Aber jetzt haben es die Brasilianer gesehen. Das Geld. Dass Lula stark in Verdacht stand, hinter dem Dossier-Kauf* zu stecken, liess die Wähler unbeeindruckt. Es schien, als würden sie Lula trotzdem gleich im ersten Wahlgang im Amt bestätigen. So sicher war sich der Mann seines Siegs noch vor drei Tagen, daß er nicht mal zur TV-Globo-Debatte ging. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ein Polizist ihm einen Strich durch die Rechnung machen würde. Ein kleiner Militärpolizist wollte dem großen Präsidenten schaden, und spielte die Fotos der Presse zu. Bilder von Bündeln von Banknoten. Öffentliche Gelder, mit denen das Dossier bezahlt werden sollte. Das tut dem brasilianischen Herz weh.
Auch dem Präsidenten schmerzt jetzt das Herz: Statt eines triumphalen Siegs im ersten Wahlgang, hat er nicht mal 50 Prozent der Stimmen bekommen. Es kommt also zur Stichwahl. Gegner Alckmin und der Verein „Für ein würdiges Brasilien“ wollten Lulas Kandidatur am liebsten noch vor der Wahl wegen des Dossier-Wahlverbrechens kippen. Das hat nicht geklappt – aber Alckmin hat über 40 Prozent geschafft und zeigt sich zuversichtlich: „Die Ethik wird über die Korruption siegen“, sagt er.
Abwarten. Bis zur Stichwahl dauert es mehrere Wochen. Bis dahin könnte womöglich noch ein neuer Skandal auftauchen. Oder die Untersuchungen über den Dossier-Fall könnten immer noch andauern. Oder die Wähler könnten das Foto bis dahin vergessen haben. Denn so lange schmerzt den Brasilianern das Herz auch wieder nicht. Zwei Drittel der Wahlberechtigten erinnern sich jetzt schon nicht mehr, für wen sie bei den Kommunalwahlen vor zwei Jahren gestimmt haben.
(*das sogenannte Serra-Dossier belastet José Serra, den ehemaligen Gesundheitsminister und frisch gewähltem Gouverneur von Sao Paulo, dem reichsten Bundesstaat des Landes: angeblich soll er im Gesundheitswesen in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Für die Unterlagen wollten PT-Mitglieder 1,7 Millionen Reais bezahlen)
Aber jetzt haben es die Brasilianer gesehen. Das Geld. Dass Lula stark in Verdacht stand, hinter dem Dossier-Kauf* zu stecken, liess die Wähler unbeeindruckt. Es schien, als würden sie Lula trotzdem gleich im ersten Wahlgang im Amt bestätigen. So sicher war sich der Mann seines Siegs noch vor drei Tagen, daß er nicht mal zur TV-Globo-Debatte ging. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ein Polizist ihm einen Strich durch die Rechnung machen würde. Ein kleiner Militärpolizist wollte dem großen Präsidenten schaden, und spielte die Fotos der Presse zu. Bilder von Bündeln von Banknoten. Öffentliche Gelder, mit denen das Dossier bezahlt werden sollte. Das tut dem brasilianischen Herz weh.
Auch dem Präsidenten schmerzt jetzt das Herz: Statt eines triumphalen Siegs im ersten Wahlgang, hat er nicht mal 50 Prozent der Stimmen bekommen. Es kommt also zur Stichwahl. Gegner Alckmin und der Verein „Für ein würdiges Brasilien“ wollten Lulas Kandidatur am liebsten noch vor der Wahl wegen des Dossier-Wahlverbrechens kippen. Das hat nicht geklappt – aber Alckmin hat über 40 Prozent geschafft und zeigt sich zuversichtlich: „Die Ethik wird über die Korruption siegen“, sagt er.
Abwarten. Bis zur Stichwahl dauert es mehrere Wochen. Bis dahin könnte womöglich noch ein neuer Skandal auftauchen. Oder die Untersuchungen über den Dossier-Fall könnten immer noch andauern. Oder die Wähler könnten das Foto bis dahin vergessen haben. Denn so lange schmerzt den Brasilianern das Herz auch wieder nicht. Zwei Drittel der Wahlberechtigten erinnern sich jetzt schon nicht mehr, für wen sie bei den Kommunalwahlen vor zwei Jahren gestimmt haben.
(*das sogenannte Serra-Dossier belastet José Serra, den ehemaligen Gesundheitsminister und frisch gewähltem Gouverneur von Sao Paulo, dem reichsten Bundesstaat des Landes: angeblich soll er im Gesundheitswesen in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Für die Unterlagen wollten PT-Mitglieder 1,7 Millionen Reais bezahlen)
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