Dienstag, 2. März 2010

Intimitäten auf der Wartebank


In den Wartezimmern deutscher Frauenärzte habe ich noch nie mit jemandem ein Gespräch geführt. Das ergibt sich einfach nicht. Jede blättert in irgendeiner dieser Zeitschriften, die frau immer nur beim Arzt liest, bestenfalls wird beim Betreten des Raums gegrüßt, damit hat sich die Kontaktfreude erledigt.

Gestern war ich hier bei der Frauenärztin im kostenlosen öffentlichen Gesundheitssystem. Den Termin hatte ich erstaunlich leicht bekommen, ein Anruf unserer dörflichen Gesundheitsagentin hatte genügt, und ich habe nur zwei Wochen warten müssen. Dafür ist der Termin morgens um sieben in der Kreisstadt, 45 Busminuten von mir entfernt. Um halb sieben rühren dort nur ein paar Garnelenverkäufer in ihrer Ware, die in riesigen Styropor-Kisten auf Interessierte wartet, ein paar Übergewichtige mit schlechtem Gewissen drehen in Turnschuhen und Leggins ihre Runden durch die Innenstadt. Und ich weiß nicht so genau, wo ich hin muss.

Da vorne rechts und dann wieder abbiegen, erklärt mir eine Frau, die ein Kind hinter sich her zerrt. Folgsam biege ich in eine Straße ein, die eher in eine Favela zu führen scheint, als zu einer Gesundheitsstation. Bevor ich mich in den Gassen verliere, frage ich eine weitere Frau, die ein Kind vor sich her schiebt. „Zum Gesundheitsposten?“, fragt die, „da muss ich auch hin, geh einfach mit mir“. Und läuft vor mir her bis zu einem Fertigbau-Bungalow, der in seinem vorigen Leben recht schmuck ausgesehen haben muss. Davor warten ein halbes Dutzend Patientinnen aller Altersklassen. Da bei diesen kostenlosen Terminen alle Patienten zur gleichen Uhrzeit bestellt werden, müssen sie sich selbst merken, in welcher Reihenfolge sie eingetroffen sind und also später behandelt werden. Ich werde nach einer fröhlichen jungen Frau im Ringelshirt an der Reihe sein.

Während die Sonnenstrahlen allmählich unangenehm auf jedem entblößten Quadratzentimeter Haut brennen, reden wir über Sozialsiedlungen, die seit einigen Jahren rund um das Stadtzentrum irgendwo in die Pampa gesetzt werden. Planquadrate von ein paar Hektar, auf denen einige Dutzend Schuhschachtelheime mit exakt gleichem Grundriss dicht nebeneinander gesetzt werden. Dann werden die neuen Heime im neuen „Viertel“ unter Bedürftigen verteilt. „Ich wollte da nicht hin“, sagt eine ältere Dame im knallroten Leibchen, aus dem reichlich zu verbrennende Haut herausschaut. „Ich habe mir lieber hier ein Haus gekauft, bevor sie mich beschenken konnten, Gott sei mir gnädig!“ Ihr selbst erworbenes Eigenheim, so erfahren wir, hat sie knapp 1200 Euro gekostet. So günstig wohnt es sich nur in – bei Regenfällen durch Abrutsch bedrohten – Hanglagen, aber das erwähnt sie nicht, sondern betont stattdessen: „Sozialwohnungen können mir gestohlen bleiben, da ist man doch seines Lebens nicht sicher, in diesen Verbrecherbunkern!“ „Wo ich wohne, ist es wunderbar!“, hält eine magere junge Frau im Blümchenkleid dagegen: „alle Anwohner haben sich zusammengetan und wir bezahlen drei Sicherheitsmänner – wir lassen sogar unsere Wäsche auf der Leine hängen, wenn wir aus dem Haus gehen, kein Problem!“

Als eine halbe Stunde nach unserem kollektiven Pauschal-Termin endlich eine Mitarbeiterin die Gesundheitsstation aufschließt und wir in der Intimität des Warteraums auf kühlen Betonbänken Platz nehmen können, wendet sich das Gesprächsthema. Die fröhliche Ringelshirt-Trägerin erzählt von einem Mann aus ihrem Viertel, der „ungelogen!“ ausgestattet sei wie ein Hengst, „der findet keine Frau, ist mit über 40 immer noch Single, nur manchmal zeigt er sein Organ Passantinnen – und die rennen schreiend weg, so groß ist das!“

In der nächsten Stunde lernen wir außerdem ihre Mutter kennen, die heute noch eine Krise bekommt, wenn die verheiratete Tochter einen Tagesausflug macht, ohne vorher Bescheid zu sagen, oder die den Schwiegersohn in Schutz nimmt, wenn der mal wieder reichlich über den Durst getrunken hat und nachts nicht nach Hause kommt. „Mein Mann liebt seinen Zuckerrohrschnaps“, betont die Geringelte, °aber er hat deswegen noch nie auf der Arbeit gefehlt“ – als mache das die allwochenendlichen Schnapsorgien des Ehemanns irgendwie wieder wett. Und mit einer anderen gesehen habe sie ihn auch noch nicht.

Als sie gerade anhebt, zu erzählen, wie sie sich einmal trotzdem beinahe von ihrem Angetrauten getrennt hätte, bin ich dran. Eigentlich hätte ich gerne noch ein Weilchen länger zugehört. Aber vielleicht gibt es ja ein nächstes Mal.

Foto: Robson Ventura /Folha Imagem

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