Sonntag, 20. Dezember 2009

Das Glück im Jammerthal


Tatsächlich bin ich im Jammerthal gar nicht gewesen. Nur in Walachai, im Batatenthal, im Frankenthal und in Padre Eterno. Aber das macht wenig Unterschied: es sind allesamt winzig kleine Gemeinden im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul. Und in allen leben Nachkommen deutscher Einwanderer aus dem Hunsrück. Sie sprechen bis heute einen Dialekt, den sie als Hunsrückisch bezeichnen. Hochdeutsch lernen manche der Kinder neuerdings in der Schule. Portugiesisch lernen die meisten auch erst in der Schule – und sprechen es zeitlebens mit einem harten deutschen Akzent.

Walachai – ganz weit weg also, nannte der erste Einwanderer damals den von ihm gegründeten Ort, weil er eben ganz weit weg war – von der Küste, von den Städten. Von der globalen Marktwirtschaft sind die hunsrückischen Dörfer bis heute ziemlich weit weg. Und das ist gut so. Die Einwohner bearbeiten den Boden der vielen Hügel mit Gerätschaften wie aus dem Mittelalter: Pflügen mit Ochsen, fahren mit Ochsenkarren, dreschen das Bohnenstroh mit dem Dreschpflegel, melken von Hand und stapfen die Butter im Budderfass. Klingt ganz schön rückständig. Dabei haben die Jammerthaler, die Walachaier, die Batatenthaler und die Frankenthaler uns einiges voraus.

Damals, als die 70,80 Kilometer, die die Gemeinden heute von der Großstadt Porto Alegre trennen, noch eine lange Reise erforderten, haben die Einwanderer sich angewöhnt, alles selbst zu machen. Reis zu pflanzen und Kartoffeln, Bohnen und Gurken. Sie sägten die Bretter selbst, aus denen sie ihre Häuser auf einem Fundament aus selbst gesammelten Feldsteinen errichteten. Sie machten ihren Käse und ihre Butter selbst und ließen Zitronensaft mit Zucker und Wasser zu Spritzbier vergären. Sie rollten ihren Tabak selbst, den sie in getrockneten Maisblättern zum Palheiro rollten, und schmiedeten ihre Pflugmesser ebenso archaisch auf dem offenen Feuer wie die eiserenen Beschläge der Ochsenkarren. Jeder hatte seine eigene Trinkwasserquelle oder wenigstens einen sauberen Bach im Garten. Geld hatten die meisten keines: Sie brauchten auch selten welches.

Wie die meisten Eltern denken auch manche Walachaier, ihre Kinder sollen es einmal besser haben. Mit „besser“ meinen sie „fortschrittlicher“. Deswegen zog Vater Zilles mit seinen Töchtern irgendwann in die Stadt. Und die kleine Rejane weinte, weil sie Heimweh hatte und von den Klassenkameraden als „Kartoffeldeutsche“ gehänselt wurde. Später wurde Rejane Zilles Schauspielerin im großen Rio de Janeiro. Und noch später kehrte sie mit einem Filmteam zurück in ihr Dorf Walachai. Wo ihr Onkel Lídio immer noch mit dem Ochsenkarren aufs Feld fährt. Wo die Menschen immer noch wenig Geld haben. Und trotzdem ganz unglaublich glücklich aussehen.

Durch eine Verkettung von Umständen habe ich Rejane in Rio kennengerlernt, als die Dreharbeiten gerade abgeschlossen waren. Und jetzt, zwei Jahre später, bin ich mit ihr in den Süden gefahren, zur Premiere ihres Dokumentarfilms mit dem Titel „Walachai“. Ein Filmkritiker aus Porto Alegre fand, Rejane habe einen übertrieben dramatischen Soundtrack gewählt - vermutlich meinte er damit den ständigen Vogelgesang, der die Bilder untermalt. Bei meiner Reise habe ich gemerkt: Der ist nicht gewählt. Der ist echt. Den Film kannte ich schon, weil ich vor ein paar Monaten die Untertitel ins Deutsche übersetzt habe. Beim ersten Mal sind mir beinahe die Tränen gekommen, als ich die Menschen gesehen habe, in ihrer so gar nicht zeitgemäßen Unverstelltheit. Jetzt, in Walachai, im Batatenthal, im Frankenthal und in Padre Eterno, habe ich die Personen aus dem Film live erlebt. Habe mit Cousine Silvane Zwiebeln geerntet und mit Tio Lídio gepflügt. Habe der alten Bertha dabei zugesehen, wie sie die Glocken der Dorfkirche läutet, und habe mit der jungen Inadia Kartoffelkichelche gegessen, die sie auf dem Holzofen in selbstgemachtem Schmalz gebraten hat.

Es macht nichts., dass ich das Jammerthal dabei nicht kennengelernt habe. Das unwahrscheinliche Glück der Menschen in den einsamen Tälern habe ich auch so erlebt. Ich mag gar nicht versuchen, es zu erklären. Nur staunen und dankbar sein, dass ich es kennenlernen durfte. Silvane sagt: „Ich werde hier nie weggehen. Höchstens im Sarg.“ Recht hat sie.

PS. Über meine Reise wird – irgendwann in 2010 – ein Text im Reiseteil der Süddeutschen Zeitung erscheinen. Der Dokumentarfilm „Walachai“ von Rejane Zilles ist bei diversen Filmfesten in Deutschland eingeschrieben, bislang ist noch nicht entschieden, ob und wo er laufen wird.

fotos: wollowski (oben: Onkel Lídio mit seinem Ochsengespann; mitte: Silvane beim Zwiebeln Ernten; unten: seit 35 Jahren glücklich verheiratet: Cleci und Werno Hoffmann)

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Das klingt ja interessant. Ich freue mich schon auf den Bericht in der SZ. Selbst kenne ich nur die Gegend um Selbach (zwischen Passo Fundo und Cruz Alta), wo zumindest die Generation 50+ noch "Hundsrücker Platt" spricht. Wo liegt denn die Walachai genau? nach den Angabe im Artikel (70 km von Porto Alegre) tippe ich auf die Gegend Gramado/Canela.

Bruno hat gesagt…

Feliz ano novo Christine!

Bin zurück aus Bahia, wo ich 6 Wochen ausgeruht habe. Soeben habe ich Deine Berichte gelesen und 2 Rechtschreibfehler entdeckt:

Sie sägte die Bretter selbst

Bei meiner Reise habe ich gemerkt: Der ist nict gewählt.

Abschließend noch 2 Fragen:
1.) Wirst Du denn Link der SZ hier reinstellen? Von Sampa fällt mir der tgl. Zugriff auf diese Zeitung schwer...
2.) Läuft der Film auch 2010 im brasil. TV oder Kino?

Abraço Bruno

christine wollowski hat gesagt…

Walachai, Jammerthal und Batataenthal gehören zur Gemeinde Morro Reuter.

Wenn es soweit ist, werde ich meinen SZ-Artikel gerne verlinken, dauert aber noch.

Und bislang hat Walachai auch noch keinen Verleih in Brasilien, sobald sich etwas tut, sag ich Bescheid.

Tatuzinho hat gesagt…

Bruno, versteh mich nicht falsch, aber ich habe den Verdacht dass Du Züge eines Korinthenkackers aufweist? Nur geraten.........

Zu den deutschen "Kolonien" hat auch Santa Catarina etwas beizutragen, zum Beispiel "a cidade mais alemã do Brasil", POMERODE. Ich konnte es nicht glauben, als ich bei meinem ersten Besuch sah, WIE deutsch dort alles noch ist. Ohne Probleme kann man dort ohne ein Wort Portugiesisch überleben und wer einmal die "Festa Pomerana" miterlebt hat kneift sich in den Arm, um aus dem Traum aufzuwachen!

Über Hunsricker habe ich auch in meinem Blog berichtet, da gibt es einen schönen Youtube - Sprachbeitrag von Leonidio Zimmermann, don't miss.

Anonym hat gesagt…

www.vivabrasil.wordpress.com

Anonym hat gesagt…

Liebe Leute, ich habe den Artikel in der SZ gelesen, leider ist er nicht online. Aber er ist sehr schön geschrieben, leider ist der Film nicht in München beim Filmfest gelaufen, soweit ich weiß. Ich bin selbst Journalist und würde gerne meine Kamera mitnehmen. Hat denn jemand Erfahrungswerte? Möchte das Ursprüngliche drehen ohne aufdringlich zu wirken.. ihr könnt mich gerne unter facebook besuchen oder mir eine email schreiben: movado77@googlemail.com oder gabriel günter summer bei facebook. herzlichen dank für tolle hinweise.. euer gabriel

 
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