Montag, 16. Februar 2009

Der Fall Paula Oliveira


Wut macht blind. Wissen wir alle. Vergessen wir ebenso alle, wenn es wieder einmal passiert. Wie in der vergangenen Woche. Eine 26jährige Brasilianerin sei in Zürich von Neonazis angegriffen worden, berichteten die brasilianischen Medien. Brutal mit einem Stilett zerschnitten. Die Misshandlungen hätten einen Spontanabort ausgelöst, direkt auf der Bahnhofstoilette habe die Juristin die Zwillinge verloren. Eine schreckliche Geschichte. Kein Wunder, dass der Fall vielerorts Diskussionsthema Nummer eins war - auch in dem kleinen Fischerdorf im Ceará, in dem ich gerade recherchierte.

„Was ist da los in Europa“, fragten die Leute entsetzt und ungläubig. Was sollte ich sagen? Fremdenfeindliche Gräueltaten sind ja leider auch in Deutschland schon häufiger vor gekommen. Kurz: Ich war ebenfalls entsetzt. Noch mehr, als es hieß, die Schweizer Polizei zweifle an der Aussage der Paula Oliveira und hege den Verdacht, die junge Frau aus Recife habe sich die Verletzungen selbst beigebracht. Absurd, ein Opfer, das bei der Polizei Anzeige erstattet, als Selbsttäter zu verdächtigen. Absurd, Beweise für eine offensichtliche Attacke zu verlangen. Fanden die Fischer. Fand ich auch. Peinlich für die Schweizer. Peinlich für alle Europäer. Sogar der brasilianische Präsident hatte gesagt, er könne nicht schweigen angesichts eines solch brutalen Angriffs auf eine Brasilianerin. Notfalls würde die brasilianische Regierung den Fall vor der UNO verhandeln.

Als ich von meiner Recherchereise zurück kam, klang die Geschichte ein wenig anders. Da erklärte der Vater von Paula in den TV-Nachrichten, er wisse nicht, ob es Beweise für die Schwangerschaft seiner Tochter gebe. Die Untersuchung durch den Schweizer Gerichtsmediziner hatte nämlich inzwischen ergeben, Paula sei zum Zeitpunkt des Überfalls gar nicht schwanger gewesen. Und überhaupt sei nicht klar, ob es einen Überfall gegeben habe: sämtliche Verletzungen seien oberflächlich und befänden sich an Körperteilen, die Paula problemlos selbst hätte erreichen können. Selbst erreichen können, muss nicht heißen, dass Paula sich selbst verstümmelt hat. Kann es aber.

Angesichts dieses Vorwurfs kochten die Emotionen erst richtig hoch. Da ließ sich sogar die ansonsten sehr seriöse Folha de Sao Paulo dazu verleiten, den Gerichtsmediziner mit Worten zu zitieren, die dieser nicht von sich gegeben hat. Andere Blätter vermelden widersprüchliche Geschichten: Einmal sollen sich Polizisten noch im Krankenhaus bei Paula und der brasilianischen Konsulin entschuldigt haben. An anderer Stelle leugnet die Konsulin, bei einem solchen Gespräch je anwesend gewesen zu sein. Einmal sagt Paulas Vater angeblich aus, die Fotos von den Verletzungen seiner Tochter habe dessen Verlobter auf seine Anregung hin aufgenommen. An anderer Stelle heißt es, der Vater habe mit dem Verlobten kaum gesprochen und dieser sei seit dem Vorfall spurlos verschwunden. Einmal heißt es, eine Arbeitskollegin wisse sicher, dass Paula ihren ersten Frauenarztbesuch zur Kontrolle der Schwangerschaft für den Tag nach dem Überfall geplant habe – wie hätte sie also wissen können, dass es Zwillinge und Mädchen sein würden? Anderswo wiederum wird erklärt, es gäbe eine Ärztin, die die Schwangerschaft begleitet habe, und mit der sei Paulas Vater in Kontakt.

Sieben Tage sind seit dem Vorfall vergangen. Während vor vielen brasilianischen TV-Geräten und an brasilianischen Kneipentischen bereits das gesamte Schweizer Volk des feigen Vertuschens beschuldigt wurde, haben andererseits auf manchen Internetseiten Schweizer User böse über die schwerwiegenden Anschuldigungen geschimpft, die aufgrund der Aussage einer psychisch Gestörten leichtfertig gegen ihr Volk vorgebracht würden. Die Schweizer Polizei bleibt äußerst zurückhaltend in ihren Aussagen. Die brasilianische Presse hat ihren Ton so weit zurück geschraubt, dass manche Medien eine Selbstverletzung nicht mehr komplett ausschließen. Gesicherte Erkenntnisse? Scheint es kaum zu geben. Zweifel? Immer mehr. Kann es sein, dass abends um 19 Uhr 30 eine Bahnstation im Großraum Zürich bereits so verlassen war, dass niemand die massiven Angriffe beobachtet hat? Wir ist es möglich, dass Paula während ihr schmerzhafte Schnittwunden zugefügt wurden, so still hielt, dass ihre Aggressoren säuberlich Buchstaben in ihre Haut ritzen konnten? „Paula ist ein Opfer“, zitiert der brasilianische Internetserver IG ihren Vater: „entweder ein Opfer von schweren psychologischen Störungen oder ein Opfer der Angriffe, von denen sie seit dem Anfang berichtet und an denen zu zweifeln ich keinen Grund habe.“

Sollte Paula Oliveira die Neonazis erfunden und sich selbst geschnitten haben, können sich viele schämen. Für die Vorverurteilung der Schweizer. Für ihre mangelnde Kritikfähigkeit. Für ihre blinde Wut. Ich gehöre auch dazu. Genau so blind wäre es allerdings, würden die Schweizer in einem solchen Fall sich auf den Triumph beschränken: Haben wir doch gleich gewusst.

In den letzten fünf Jahren hat es mehr als 200 rassistisch begründete Angriffe in der Schweiz gegeben, so der Schweizer Soziologe Jean Ziegler. Und die Schweizer Volkspartei, deren Initialen SVP in die Haut von Paula geritzt sind, benutze Fremdenfeindlichkeit tatsächlich als politisches Mittel. Das heißt: Grundsätzlich wäre wohl ein neonazistischer Angriff auf eine Brasilianerin in der heutigen Schweiz nicht unmöglich. Das ist schlimm. Egal, ob der Vorfall um Paula Oliveira nur in ihrer Vorstellung Realität gewesen sein mag. Und es sollte Grund genug sein, nicht für blinde Wut, sondern für überlegte Handlungen.

Foto: Marco Trapp

3 Kommentare:

Geo Resources hat gesagt…

Die Tatsachen deuten darauf hin, dass Paula Oliveira den Nazi-Überfall erfunden hat. Irreführung der Rechtspflege ist ein Offizialdelikt und wird mit maximal drei Jahren Haft bestraft. Das Strafmass hängt davon ab, in welchem Mass die Angeklagte unzurechnungsfähig war oder ob eine psychische Erkrankung vorliegt. Diese verrückte Frau ist sehr wahrscheinlich psychisch krank. Die Reaktionen der letzten Tage deuten daraufhin, dass auch brasilianische Journalisten und Politiker krank sind.

Anonym hat gesagt…

Toll! Da wir allen krank sind, wer bleibt gesund genug um uns wieder fit zu machen?
Humor abseits, es sieht so aus, dass das Verhalten unserer Journalisten "Schule" gemacht hat: in die NZZ (Neue Zürcher Zeitung) ist seit Samstag zu lesen dass das "Verfahren" Paulas Selbstverständlichkeit hierzulande sei, was die Schwangerschaft betrifft. Das gleiche gilt auch für unsere Ausländerfeindlichkeit. Inzwischen habe Ich von der Suche auf der Quelle dieser Statistik aufgehört...
Schliesslich: wer ein Teil als das ganzes nimmt, der irrt 100%ig.
Grüsse

Anonym hat gesagt…

Was ist zu guter Letzt noch zu sagen? Ja, es empfiehlt sich grundsätzlich, nicht gleich mit Kanonen auf Spatzen zu schießen, was das Verfahren zweier Länder untereinander angeht. Sicher hätte die Schweiz tatsächlich Fälle fremdenfeindlicher Übergriffe in ausreichendem Maße geahndet. Und obwohl im Nachrichtengeschäft die Schnelligkeit „Trumpf“ ist, so hätte
„O Globo“ besser etwas besonnener reagiert. Gut, wenn z.B. „normalerweise“ „ein Flugzeug“ „abstürzt“, dann ist wohl in 99% der Fälle das auch tatsächlich so. - Sicher, die hiesige Geschichte nahm letztenendes eine Wendung, von welcher nicht auszugehen war, auch sowas gibt es.

Wie dem auch sei. Die Sache um Paula Oliveira ist traurig genug. Diese Frau hat, wenn den Medien zu Entnehmendes zutreffend ist, wirklich schwerwiegende Probleme und ist mehr zu bedauern, als an den Pranger zu stellen. So was ist weder witzig, noch sollte es dazu hergenommen werden, um sich mit Vorwürfen zu bombardieren.
Solche Probleme hätten sich auch bei einer Deutschen oder anderen Menschen jeglicher Nationalität, an irgendeinem Ort, einstellen können. Diesmal betraf es eben eine sich in der Schweiz aufhaltende Brasilianerin.

Wahrlich beschämend und bekämpfenswert sind hingegen die nach wie vor tatsächlich vorhandene Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Das, was sich da an Verbrechen wirklich noch zuträgt. Oft werden hierbei Opfer aufs Schwerste geschädigt bis hin zum Tode, und das wegen niedrigster Beweggründe von verblendeten/instrumentalisierten Tätern. Viele Ausländer würde es bestürzen, wenn sie wüssten, was sich in Deutschland ereignen könnte. Hiergegen muß angegangen werden.

Gerade auch, weil sehr viele im Ausland lebende Menschen eine sehr hohe Meinung von Deutschland haben, seien es nun Maschinen, Fahrzeuge, Erzeugnisse jeglicher Art oder das Deutschsein, die Kultur an sich (Was auch immer darunter verstanden wird).
So traf ich über die Arbeit einen Mann, der Goethe las und mich bat, ihm bei der Interpretation einiger Textpassagen zu helfen (Bekenne aber gleichzeitig, mich mit Literatur nicht auszukennen). Oder eine Frau, die „No Angels“ hörte, und überrascht zur Notiz nahm, das auch diese Gruppe eine Art „deutsches Produkt“ sei. Oder andere Leute, die Schreibwaren von Faber-Castell schätzten und anscheinend hiermit ihre Meinung zu Deutschem bildeten.
Und obwohl Mittel-/Latein-/Südamerika eigentlich genug eigene gute Musik hat, so kennen wiederum viele junge Menschen im Ausland die Musikgruppe RAMMSTÈIN. Und mögen diese, genauso wie sie wissen, dass es sich um etwas „Deutsches“ handelt. (Gewiß haben die Schweiz und Österreich in anderen Kulturen genau solches Ansehen. Gemäß des eigenen Ursprunges wählte ich eben deutsche Beispiele).

Manchmal darf man auch schmunzeln, wenn man auf die eigene Heimat zu sprechen kommt.
So geschehen mit einer Südamerikanerin, mit der ich mir Fotoalben ansah, und darin auch eine Rundreise durch Österreich und Deutschland aufgezeigt wurde: Bilder mit obligatorischen Sehenswürdigkeiten wie den Schlössern Nymphenburg, Hohenschwangau, Neuschwanstein. Und beiläufig wurde auch erwähnt, dass sie als Besucher versucht waren, möglichst viel von der deutschen Lebensart aufzunehmen. Schon am Morgen beginnend. Hier warf ich dann ein, das heutzutage sich der Lebensstil am Frühstückstisch von Stadtmenschen, gleich ob in São Paulo oder München nicht so sehr mehr unterscheiden mag. Schließlich sei heute Kaffee allgegenwärtig. Auch der frühmorgendliche Genuss von Orangensaft sei hier wie da möglich. Und selbst viele Brotaufstriche wie die Brötchen an sich glichen sich doch nahezu…

Doch ich wurde –nett- eines Besseren belehrt.
So wurde während der besagten Rundreise beispielsweise „typisch deutsch“ gefrühstückt: Mit morgendlichen Bratwürsten, begleitet von Sauerkraut. Dazu: Bier.
Denn, so wurde mir gesagt, wir würden doch gerade Kraut über alles lieben und Bier gehöre schließlich sowieso dazu…
Nun, obwohl ich weder Sauerkraut verschmähe, meine Herkunft keineswegs verkenne und immer wieder gerne heimkomme: So deutsch frühstücke nicht einmal ich!!!

 
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