Donnerstag, 28. September 2006

Der Wahlkampf gehört verboten

Eigentlich hätten sie den Wahlkampf komplett verbieten können. Statt dessen kommen die Verbote einzeln: Kandidatenwerbung auf Plakatwänden und Litfasssäulen ist in diesem Jahr verboten. Die beliebten Kandidaten-T-Shirts – von der ärmeren Bevölkerung gerne bis zur nächsten oder übernächsten Wahl getragen – sind in diesem Jahr verboten. Sogar kleine Kandidatenwerbegeschenke wie Kugelschreiber und Schirmmützen sind verboten. Und zum Glück sind auch die Lärmautos verboten. Lärmautos heißen auf Portugiesisch „Carros de som“ und sind eine Analphabeten-Erfindung: Weil jeder zehnte Brasilianer funktionaler Analphabet ist, kommen gedruckte Werbebotschaften nur bedingt beim potentiellen Wähler an. Das „Carro de som“ ist ein beliebiger Pkw, auf dessen Dach möglichst potente Lautsprecher geschraubt werden. Live übers Mikro in der Hand des Fahrers oder vom Band dröhnen die Werbespots in den Haushalt jedes Anwohners, an dem der mobile Werbetröter vorbeirollt: Morgens beim Zähneputzen erfahre ich so die neuesten Sonderangebote des Supermarkts Santo Agostinho, gipfelnd in der Aussage: „Die besten Angebote, todo dia, jeden Tag.“ Manche Nachbarn begrüßen sich schon so, mit „todo dia, todo dia“ anstatt „Guten Tag“.

Was den Politikern bleibt zur Selbstdarstellung? Private Räume. Das können auch private Heckscheiben sein. Von den Autos sämtlicher Politikerfamilienmitglieder strahlen Kandidaten. Die Gartenmauern all derjenigen, die sich einer offensiven Bitte nicht verschließen können, sind mit Namen und Nummern vollgepinselt. Auf dem Capibaribe-Fluss mitten in der Millionenstadt Recife trudeln Fischerboote, deren Segel Kandidatennamen tragen. Und an manchen Ampeln stehen Clowns mit Bambusstäben, zwischen denen sie bei jeder Rotphase mobile Transparente spannen. Mobil ist fast schon privat.

Privat ist auch die Wahlkampf-Sendezeit in Brasiliens größtem TV-Kanal Rede Globo. Geschickt in die Abendnachrichten eingeblockt, sprechen die Politiker zum Volk. Doch das Volk hört nicht zu. Weil die meisten einfach den Ton abdrehen, laufen die Spots inzwischen mit Untertiteln. Interessieren aber trotzdem kaum jemanden. Drei Themen sind Top-Titel im Marathon der Wahlversprechen: Arbeitsplätze schaffen, das Bildungswesen verbessern, die Kriminalität senken. Alles längst bekannt, längst versprochen und nie umgesetzt.

In diesem Jahr gibt es aber noch ein neues Thema: Ehrlich sein. „Ich klaue nicht, ich lüge nicht, ich bin nicht bestechlich“, verspricht Präsidentschaftskandidatin Heloisa Helena. Bis vor einiger Zeit hat die regierende PT das Monopol darauf beansprucht, Gutmenschen, Ethik-Apostel und korruptionsfreie Idealisten zu beherbergen. Dann kamen die Skandale. Der größte, der Mensalao, zeigte, daß mehr als ein Drittel des ganzen Senats in ein ausgeklügeltes Bestechungs-System verwickelt war. Minister nahmen an Treffen zum Organisieren der Korruption teil, Regierungsmitglieder wurden mit Dollarpaketen in der Unterhose gestellt, Abgeordnete ließen sich dafür bezahlen, daß sie bedürftigen Gemeinden mit öffentlichen Geldern Krankenwagen verschafften. Und jetzt die Geschichte mit dem Dossier. Hauptdarsteller: Alles ehrliche Ptler.

Lula sagt, er weiß von nichts, alle haben ihn betrogen. Und die Gegenkandiaten behaupten: Wir sind aber wirklich ganz ehrlich! Ehrlich sein ist eine tolle Sache. Jeder einzelne der ehrlichen Oppositionspolitiker oder jeder ehrliche Kandidat oder jede ehrliche Kandidatin könnte – um der Ehrlichkeit zum Sieg zu verhelfen - ein Impeachment des Präsidenten beantragen. Sogar ein ganz normaler Bürger kann das nach brasilianischem Recht. Macht aber keiner. Statt dessen sind Lulas Umfragewerte heute wieder auf über 50 Prozent gestiegen. Da könnte man doch wirklich gleich den Wahlkampf komplett verbieten.

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