
Hundert Jahre sind viel Zeit. Damals hat er es schon schwer gehabt, andere mit seinem Beispiel anzustecken. Und heute? Hier in Brasilien erscheinen zwar überall lange Lob-Artikel auf den rebellischen einstigen Erzbischof von Recife und Olinda, Dom Helder Camara, aber anscheinend sind mehr Journalisten als heutige Kirchenvertreter von dem Mann beeindruckt, der sein Dienstauto verkaufte und Bus fuhr, um dem Volk näher zu sein, der gegen Pomp und für Bescheidenheit plädierte und eine Kirche für die einfachen Leute wollte, statt einer für die Damen der besseren Gesellschaft. Von Dom Helder wäre so ein Diskurs nicht zu erwarten gewesen, wie ihn sein Nachfolger Dom José Cardoso Sobrinho, aktueller Erzbischof von Recife und Olinda letzte Woche von sich gegeben hat.
Der Hintergrund ist grausam: Bei einem neunjährigen Mädchen, das erst vor wenigen Monaten seine erste Menstruation erlebt hatte, wurde eine Schwangerschaft festgestellt. Von Zwillingen. Das Mädchen erzählte daraufhin, wie sie seit ihrem sechsten Lebensahr von ihrem Stiefvater vergewaltigt wurde. Der Stiefvater ist der Vater der Zwillinge. Selbst nach der ersten Menstruation ist eine Neunjährige ein Kind. Weder psychisch, noch physisch auf eine Schwangerschaft vorbereitet. Zur besseren Vorstellung: Das Mädchen ist ein Meter 33 groß und wiegt 36 Kilo. Selbst das erzkatholisch inspirierte brasilianische Recht erlaubt Abtreibung in einigen Sonderfällen, zum Beispiel,wenn Gefahr für Leib und Leben der Mutter besteht.
Dem Erzbischof ist das egal. Er suchte schon vor Wochen Kontakt zur Mutter des Mädchens, um ihr ins Gewissen zu reden, dass die Zwillinge ausgetragen werden müssten, um "Leben zu retten". Die Mutter weigerte sich, mit dem alten Kirchenmann zu sprechen. In aller Stille wurde die Schwangerschaft des vergewaltigten Kindes beendet, bevor es noch mehr Schaden nehmen konnte. Und der Erzbischof? Der sagte, mit vom Alter etwas zittriger Stimme, aber fest in seiner Überzeugung: Er werde sowohl die Ärzte, als auch die Mutter des Mädchens exkommunizieren. Denn Abtreibung sei eine Todsünde.
Das war auch Präsident Lula zu heftig. „Es ist doch unmöglich, dass ein vom Stiefvater missbrauchtes Mädchen das Kind behält, wenn es in Lebensgefahr schwebt. Ich denke, aus diesem Grund hat die Medizin korrekter gehandelt als die Kirche. Die Ärzte haben das getan, was getan werden musste: das Leben eines neunjährigen Mädchens retten“, sagte der Präsident letzte Woche zu TV-Journalisten. Das Mädchen werde vermutlich ohnehin Jahrzehnte in psychologischer Behandlung brauchen, um ein halbwegs normales Leben führen zu können.
Der Nachfolger von Dom Helder sieht das anders. Natürlich sei auch die Vergewaltigung ein Verbrechen. Aber Abtreibung ist schlimmer. Genau so hat der Biachof das gesagt. Im Klartext heißt das: Der Mann, der ein sechsjähriges Kind vergewaltigt, darf in der Kirche bleiben. Die Mutter, die das Leben ihrer misshandelten Tochter schützen will, wird ausgestoßen.
Vielleicht sollten die noch ausstehenden Gedenkfeierlichkeiten zu Dom Helder umbenannt werden: Nicht hundert Jahre liberales Denken in der katholischen Kirche gibt es zu begehen, sondern hundert Jahre Hybris.
Foto: Dom Cardoso Sobrinho / NN