Es gibt ja so Worte, die sich Fremden in einer Sprache schwer bis gar nicht erschließen. Vom Portugiesischen heißt es, das Wort Saudade sei nicht übersetzbar, weil nicht einmal das Gefühl in anderen Sprachen wirklich nachfühlbar sei. Sehnsucht käme der Saudade nur bedingt nahe, weil ja auch noch Schwermut mit darin schwebe und diverse andere Nuancen. Spezialisten können da stundenlang an Annäherungen feilen.
Jetzt ist in Brasilien ein neuer Begriff aufgetaucht, der der Saudade an Unübersetzbarkeit kaum nachsteht: Ficar. Wörtlich heißt das „bleiben“. Ist also sehr wohl übersetzbar. In der einfachen Verwendung, wie: Ich bleibe noch auf der Party. Aber was ist gemeint, wenn Eva sagt: Ich bin gestern abend mit Pedro geblieben? Das neue Ficar hat etwas mit Intimitäten zu tun, so weit ist leicht geraten. Und weiter? Hat sie nun Händchen gehalten, rumgeknutscht oder war sie im Bett mit dem Kerl? Gesagt hat sie nur: "Fiquei – ich bin geblieben".
Was zum Teufel heißt Ficar? Ich habe Lulu gefragt. Lulu ist achtzehn, ist bisher mit zwei Typen geblieben und noch Jungfrau. Lulu sagt: Ficar kann schüchternes Händchenhalten sein oder wildes Rumknutschen, kann voll bekleidet in der Öffentlichkeit stattfinden oder unbekleidet in einem Bett. Wenn also Eva sagt: ich bin mit Pedro geblieben, kann das heißen, die beiden haben Sex miteinander gehabt. Es kann aber auch heißen, sie haben sich nicht einmal geküßt, nur umarmt. Bleibt alles vage. Nur eine Sache ist sicher bei Ficar: Es ist nicht von Dauer.
In einem momentan ziemlich angesagten Forró-Stück heißt es: Eu nao quero compromisso, só quero ficar - Ich will keine Verpflichtung, ich will nur bleiben. Da klingt das rheinische „Rummachen“ an, eine vor allem im Karneval oder sonst bei alkoholisierten Gelegenheiten auftretende spontane Paarbildung von kurzer Dauer und ohne Verpflichtung. Und das kommt dem Ficar schon fast so nahe wie die Sehnsucht der Saudade.
Ficar ist hundertprozentig unverbindlich. Kann heute mit Pedro und morgen mit André sein, oder sogar auf der gleichen Party mit Luis und José. Wenn zwei miteinander geblieben sind, grüßen sie sich beim nächsten zufälligen Treffen, mehr Intimität zeigen sie normalerweise nicht. Wenn einer der beiden später mit anderen bleibt, ist keine Eifersucht zulässig. Es ist ok, mehr als einmal mit dem gleichen Partner zu bleiben. Aber nie, nie, nie, darf man über einen Zeitraum von mehr als ein paar Monaten mit dem gleichen bleiben. Dann wird es namoro, die beiden sind zusammen, und die üblichen Verpflichtungen brechen über sie hinein.
Der Kerl hat also eine feste Freundin, eine namorada, und macht auf einer Party mit einer anderen rum? Nicht ok. Ausser, der Kerl sagt. War nichts Ernstes, ich bin mit der anderen doch nur geblieben.
Klingt beinahe so, als sei Ficar die ultimative Ausrede für unstete Typen.
Mittwoch, 8. November 2006
Sonntag, 5. November 2006
Die schönsten Pummelchen der Welt
Neben mir sitzt eine Dame mit blutunterlaufenen Augen, rotbraun gefärbtem schütterem Haar, reichlich Altersflecken auf der Hand – und der zarten Gesichtshaut einer 15Jährigen. Ihre Nachbarin hat was von Michael Jackson auf Brasilianisch: winzige Stupsnase, bleiche Haut, seltsamer Haaransatz, leicht schräge Augen. Ich sitze mit meiner Freundin im Wartezimmer von Henylda, einer der beliebtesten Schönheitschirurginnen Recifes. Henylda macht alles, von der Mini-Lipo bis zur Nasenkorrektur.
Beth will sich ihre Stirnfalten mit Botox wegspritzen lassen und fragt gleich mal in die Runde, ob jemand Erfahrung mit Botox hat. Und schon kommen alle ins Gespräch. Miss Michael Jackson will sich die Wangen liften lassen. Die hängen zwar gar nicht, aber Miss Jackson wohnt in den USA und da ist alles viel teurer. Hier sagt sie ihrem Mann einfach, sie gehe zum Friseur und läßt sich schnell ein paar Goldfäden in die Wangen ziehen. Wenn die dann irgendwann wirklich zu hängen drohen, kann sie die einfach immer nachspannen lassen, praktisch, oder? Eigentlich ist die Dame richtig sympathisch. Und das Lifting wird ihre erste Schönheits-OP sein – ihre Ähnlichkeit mit dem psychopathischen Popstar hat sie einem Verkehrsunfall zu verdanken. Klischees stimmen eben doch nicht immer.
Brasilianerinnen sind schön. Auch wenn sie übergewichtig sind. Auch wenn manche zu kurze Beine haben. Oder blutunterlaufene Augen. Die bekommt man, wenn man sich die Tränensäcke wegschneiden läßt, erklärt die Dame mit der sonst so rosigen Gesichtshaut. Geht aber bald wieder weg. Und Botox ist gar kein Problem, das dauert nur fünf Minuten, beteuert eine attraktive Rothaarige undefinierbaren Alters, die neben ihrer pummeligen Freundin sitzt. Was machen denn die beiden hier? „Ich mache eine Lipo am Bauch“, sagt die Pummelige, „der stört mich zwar nicht wirklich, aber irgendwie ist es blöd, größere Kleidergrößen zu brauchen als meine Mutter“. „Ich hab schon so ziemlich alles gemacht“, kichert die Mutter gutgelaunt. „Zuerst Botox, dann die Fältchen an der Oberlippe aufpolstern lassen, dann Lipo...“ Heute begleitet sie nur ihre Tochter. Aber das mit den Tränensäcken, das wäre natürlich eine Überlegung wert. Überhaupt sind hier alle ganz locker. Nicht so, als müßten sie traumatische Defekte an ihrem Körper beseitigen.
Müssen sie auch nicht. Die Brasilianerinnen haben nämlich ein ganz anderes Verhältnis zu ihrem Körper als wir Europäerinnen. Erstens können sie ihn nicht über die Hälfte des Jahres verstecken, weil Wintertemperaturen von 28 Grad keine dicken Klamotten rechtfertigen. Zweitens wollen sie ihn gar nicht verstecken. Egal, ob sie aussehen wie Gisele Bündchen, oder doch eher wie Maria XXL. Die ersten XXL-Marias in knappen Miniröcken und bauchfreien Shirts habe ich noch für ihren Mut bewundert. Mit der Zeit habe ich gemerkt, daß sie gar keinen Mut brauchen. Eine Bauchbesitzerin kann – ganz besonders hier im Nordosten - mehr Erfolg haben als eine Bauchlose, Vor allem, wer seine „Gostosura“* mit dem rechten Hüftschwung präsentiert, kann sich bewundernder männlicher Blicke sicher sein. Aus europäischer Sicht verunsichert das erst mal. Gibt es hier keine Diäten? Muß hier niemand kaschierende Flatterkleidchen über die Fülle hüllen? Hautenge Tops und Lycrajeans für alle? Ist das denn ästhetisch? Und wozu dann noch Schönheitsoperationen?
Meine Antworten nach ausgiebiger Feldforschung:
- Lycra für alle? Ja! Aus hautengen Tops quellende Üppigkeit findet viele Fans.
- Diäten? Machen manche Mädels trotzdem – um sie spätestens bei der nächsten Strandparty konsequent abzubrechen. Das ist erstens sympathisch und zweitens garantiert gesünder für Körper und Geist.
- Flatterkleidchen als Versteck? Nicht mal in der Körperkult-Hauptstadt Rio sind alle Frauen elfengleiche Models. Die anderen tragen auch Tangas und sonnen sich auch an der Copacabana.
- Schönheitsoperationen? Sind hierzulande vermutlich eher mit einem Frisörbesuch zu vergleichen als mit tiefenpsychologisch wirksamen Persönlichkeitsveränderungen: Schauspielerin Sonia Braga hat sich gerade generalüberholen lassen und präsentiert das Ergebnis stolz in der aktuellen Telenovela, nach dem Motto: „Guckt mal, wie hübsch das geworden ist!“
Das brasilianische Selbstbewußtsein ist übrigens so ansteckend, daß schon wenige Wochen Brasilien reichen, um sich den ersten Minirock zu kaufen. Nach spätestens einem halben Jahr ist der erste einheimische Bikini fällig – neben dem alle europäischen Modelle zwingend so aussehen, wie aus Urgroßmutters Klamottenkiste. Keine Ahnung, wie lange es dauert, den Hüftschwung zu erlernen. Der die Brasilianerinnen zu den schönsten Pummelchen der Welt macht. Selbst wenn sie keine Pummelchen sind. Aber das ist ja zum Glück Nebensache.
* Gostosura bedeutet so etwas wie lecker Rundungen
Beth will sich ihre Stirnfalten mit Botox wegspritzen lassen und fragt gleich mal in die Runde, ob jemand Erfahrung mit Botox hat. Und schon kommen alle ins Gespräch. Miss Michael Jackson will sich die Wangen liften lassen. Die hängen zwar gar nicht, aber Miss Jackson wohnt in den USA und da ist alles viel teurer. Hier sagt sie ihrem Mann einfach, sie gehe zum Friseur und läßt sich schnell ein paar Goldfäden in die Wangen ziehen. Wenn die dann irgendwann wirklich zu hängen drohen, kann sie die einfach immer nachspannen lassen, praktisch, oder? Eigentlich ist die Dame richtig sympathisch. Und das Lifting wird ihre erste Schönheits-OP sein – ihre Ähnlichkeit mit dem psychopathischen Popstar hat sie einem Verkehrsunfall zu verdanken. Klischees stimmen eben doch nicht immer.
Brasilianerinnen sind schön. Auch wenn sie übergewichtig sind. Auch wenn manche zu kurze Beine haben. Oder blutunterlaufene Augen. Die bekommt man, wenn man sich die Tränensäcke wegschneiden läßt, erklärt die Dame mit der sonst so rosigen Gesichtshaut. Geht aber bald wieder weg. Und Botox ist gar kein Problem, das dauert nur fünf Minuten, beteuert eine attraktive Rothaarige undefinierbaren Alters, die neben ihrer pummeligen Freundin sitzt. Was machen denn die beiden hier? „Ich mache eine Lipo am Bauch“, sagt die Pummelige, „der stört mich zwar nicht wirklich, aber irgendwie ist es blöd, größere Kleidergrößen zu brauchen als meine Mutter“. „Ich hab schon so ziemlich alles gemacht“, kichert die Mutter gutgelaunt. „Zuerst Botox, dann die Fältchen an der Oberlippe aufpolstern lassen, dann Lipo...“ Heute begleitet sie nur ihre Tochter. Aber das mit den Tränensäcken, das wäre natürlich eine Überlegung wert. Überhaupt sind hier alle ganz locker. Nicht so, als müßten sie traumatische Defekte an ihrem Körper beseitigen.
Müssen sie auch nicht. Die Brasilianerinnen haben nämlich ein ganz anderes Verhältnis zu ihrem Körper als wir Europäerinnen. Erstens können sie ihn nicht über die Hälfte des Jahres verstecken, weil Wintertemperaturen von 28 Grad keine dicken Klamotten rechtfertigen. Zweitens wollen sie ihn gar nicht verstecken. Egal, ob sie aussehen wie Gisele Bündchen, oder doch eher wie Maria XXL. Die ersten XXL-Marias in knappen Miniröcken und bauchfreien Shirts habe ich noch für ihren Mut bewundert. Mit der Zeit habe ich gemerkt, daß sie gar keinen Mut brauchen. Eine Bauchbesitzerin kann – ganz besonders hier im Nordosten - mehr Erfolg haben als eine Bauchlose, Vor allem, wer seine „Gostosura“* mit dem rechten Hüftschwung präsentiert, kann sich bewundernder männlicher Blicke sicher sein. Aus europäischer Sicht verunsichert das erst mal. Gibt es hier keine Diäten? Muß hier niemand kaschierende Flatterkleidchen über die Fülle hüllen? Hautenge Tops und Lycrajeans für alle? Ist das denn ästhetisch? Und wozu dann noch Schönheitsoperationen?
Meine Antworten nach ausgiebiger Feldforschung:
- Lycra für alle? Ja! Aus hautengen Tops quellende Üppigkeit findet viele Fans.
- Diäten? Machen manche Mädels trotzdem – um sie spätestens bei der nächsten Strandparty konsequent abzubrechen. Das ist erstens sympathisch und zweitens garantiert gesünder für Körper und Geist.
- Flatterkleidchen als Versteck? Nicht mal in der Körperkult-Hauptstadt Rio sind alle Frauen elfengleiche Models. Die anderen tragen auch Tangas und sonnen sich auch an der Copacabana.
- Schönheitsoperationen? Sind hierzulande vermutlich eher mit einem Frisörbesuch zu vergleichen als mit tiefenpsychologisch wirksamen Persönlichkeitsveränderungen: Schauspielerin Sonia Braga hat sich gerade generalüberholen lassen und präsentiert das Ergebnis stolz in der aktuellen Telenovela, nach dem Motto: „Guckt mal, wie hübsch das geworden ist!“
Das brasilianische Selbstbewußtsein ist übrigens so ansteckend, daß schon wenige Wochen Brasilien reichen, um sich den ersten Minirock zu kaufen. Nach spätestens einem halben Jahr ist der erste einheimische Bikini fällig – neben dem alle europäischen Modelle zwingend so aussehen, wie aus Urgroßmutters Klamottenkiste. Keine Ahnung, wie lange es dauert, den Hüftschwung zu erlernen. Der die Brasilianerinnen zu den schönsten Pummelchen der Welt macht. Selbst wenn sie keine Pummelchen sind. Aber das ist ja zum Glück Nebensache.
* Gostosura bedeutet so etwas wie lecker Rundungen
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Alltag
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