Samstag, 17. April 2010

Skalpierte Frauen

Zurzeit läuft in Nordbrasilien eine Kampagne gegen das Skalpieren. Ja, in Brasilien wird bis heute skalpiert. Gar nicht mal selten. Vollständige Erhebungen gibt es nicht, aber es sind wohl mindestens 50 Skalps jedes Jahr, die vor allem im Norden vor allem Frauen und Mädchen vom Kopf gerissen werden. Im Norden nicht etwa deswegen, weil dort besonders viele Indiostämme besonders blutige Bräuche pflegen, sondern weil dort viele Menschen unter bescheidensten Umständen auf Booten leben.

Wer auf einem Boot lebt, verrichtet dort alle Alltagstätigkeiten, vom Waschen und Kochen bis zum Zähneputzen und Haare-Kämmen. In Brasilien hat der Kurzhaarschnitt für Frauen bestenfalls in Metropolen wie Sao Paulo oder Rio bescheidenen Einzug gehalten, für die absolute Mehrheit der Brasilianerinnen ist eine üppige lange Mähne der Inbegriff von weiblicher Schönheit. So auch für die meisten Bootsbewohnerinnen. Wenn diese während der Fahrt auf ihrem Boot ihre langen Haare kämmen, passiert es: Das Haar verfängt sich in der Schraube des ungeschützt offenliegenden Motors, wird aufgewickelt bis an die Haarwurzel – und dann reißt die Motorkraft der Frau den Skalp vom Kopf. Manchmal nur einen Teil der Kopfhaut mit Haaren, manchmal die kompletten Haare, manchmal inklusive Augenbrauen oder sogar Ohren und Teilen der Gesichtshaut. Manche Frauen sterben an den Unfallfolgen, alle werden grausam verunstaltet.

Viele Familien haben nicht genug Geld, der Verletzten eine Perücke zu kaufen, manche kümmern sich aus Abscheu nicht einmal mehr um die Unfallopfer ihrer Familie im Krankenhaus. Die verunstalteten Frauen leben im Abseits der Gesellschaft, finden nur unter großen Schwierigkeiten Partner oder einen Job. Allein im Bundesstaat Amazonas sind schätzungsweise 100.000 Boote mit Personen unterwegs –ein Drittel davon außerhalb jeder Kontrolle. Bislang hat die Vereinigung der skalpierten Frauen 1400 Opfer gezählt, die Dunkelziffer dürfte weit darüber liegen.

Anfang 2010 hat Lula ein Gesetz verabschiedet, das den 28. August zum Tag des Skalpierens erklärt. Kürzlich wurde zudem beschlossen, dass den Skalpierten eine gesetzliche Entschädigung von umgerechnet etwa 1450 Euro zusteht. Das ist selbst in Brasilien kaum genug für eine Schönheits-OP, die den Frauen ein normales Aussehen zurückgäbe. Die Vorsitzende der Vereinigung skalpierter Frauen, Maria do Socorro Pelaes Damasceno, verlor ihren Skalp als Siebenjährige und hat bereits diverse OPs hinter sich, in denen ihr Gesicht wieder hergestellt werden sollte. Bislang ohne zufriedenstellendes Ergebnis. „Wir fordern, dass Chirurgen, die OPs zur Wiederherstellung durchführen, in unseren Bundesstaat kommen, denn wir haben nicht die nötigen Mittel, um zu ihnen nach Sao Paulo oder Rio zu reisen“, sagt Maria

Obwohl bereits im Juli des vergangenen Jahres ein weiteres Gesetz verabschiedet wurde, welches den Einsatz ungeschützter Motoren auf Booten verbietet und mit Bußgeldern sowie Bootsführerscheinentzug bestraft, geht das Skalpieren weiter. „Wie sollen wir denn unseren eigenen Vater oder Ehemann anzeigen, wenn dieser unseren Lebensunterhalt verdient?“, gibt Maria do Socorro zu bedenken.

Hat mal jemand daran gedacht, dass der gesetzlich geforderte Schutz zu teuer sein könnte, für Menschen, die sich nach einem Unfall nicht einmal eine Perücke leisten können? Oder dass es vielleicht mehr Wirkung zeigen würde, Schutzvorrichtungen zu stiften, anstatt Strafen zu verhängen?

foto: Die Vorsitzende der Vereinigung skalpierter Frauen, Maria de Socorro, verlor außer ihrem Skalp auch beide Ohren (Antonio Cruz, Agencia Brasil)

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Der "Kurhaarschnitt" ist wohl ein Kurzhaarschnitt, oder?

Okrim354 hat gesagt…

"Ja, in Brasilien wird bis heute skalpiert." -> Wer dies liest, denkt an Indianerstämme, Vergewaltiger oder brutale Ehemänner bzw. Räuber.

In Wahrheit scheint es sich jedoch eher um (Boots-) Unfälle bzw. Mißgeschicke mit dem Umgang mit Bootsmotoren zu handeln.

Also warum hast Du den Sachverhalt so reisserisch dargestellt? Habe nicht gewusst, dass Du jetzt für die BILD schreibst ;-)))

David hat gesagt…

Zumindest eine Überschrift darf doch durchaus etwas "reißerisch" sein. Um neben der inhaltlichen Konkretisierung eines nachfolgenden Textes auch zusätzlich noch ein Interesse an diesem zu wecken.

Dies bezieht sich bei weitem nicht nur auf Journalismus oder den Bereich der Boulevardmedien.

Wichtig ist vor allem der Inhalt von Texten, deren Aussagen. Sowie, die erweiternden Einblicke, welche sie der Leserschaft gewähren - Im Kontext eines geweiligen Anspruches, hinsichtlich welchem die Arbeit einer Verfasserin, bzw. eines Verfassers ausgerichtet ist.

In Relation dazu sind die Beträge von "Ordem e Progresso - Alltag in Brasilien" sehr interessant, weil sie Sachen ins Bilde rücken, welche in der normalen Berichterstattung kaum wahr zu nehmen wären - neben Dingen wie "flugverkehrlähmenden Vulkanaschewolken" und anderen, sonstigen "Reißern". Diese scheinbar wichtigen Meldungen aus Island und "leidendem" Rest-Europa wiederum sind auf lange Sicht hin eigentlich gar nicht so wichtig. Um nicht zu sagen "völlig unerheblich", gegenüber dem Verlust der Haare und Kopfhaut, was vermutlich bis auf weiteres nicht abzuwenden sein wird.

Weiterhin wusste ich nicht darum, dass es noch heute auch in Brasilien Menschen gibt, für die das Leben mit und auf dem Wasser so signifikant zu sein scheint.

Drum:
Dramatisch genug, wie finde ich, auch gänzlich ohne ein Teilhaben von Verbrechern oder
Indianerstämmen.

 
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