Samstag, 20. Februar 2010

Kein Dach auf unserer Schule


Nach Karneval sind in Brasilien die Sommerferien endgültig vorbei, und der Unterricht geht wieder los. Nicht so hier im Dorf. Hier wird der Unterricht voraussichtlich Anfang März wieder beginnen. Wenn bis dahin das neue Dach auf der Schule ist. Den ausgefallenen Unterricht sollen die Schüler dann im Juli nachholen – wenn alle anderen Winterferien haben. Das ist psychologisch nicht sehr geschickt und kann auch noch zu anderen Schwierigkeiten führen: Schüler, die mit dem Bus zur Schule fahren, bekommen für diese Fahrten staatlich finanzierte Wertmarken. Da im Juli allgemein unterrichtsfrei ist, werden für diesen Monat solche Marken gar nicht erst gedruckt. Ob daran schon jemand gedacht hat? Ob dann nur für eine einzige Schule die Druckerei angeworfen wird?

Für unbeteiligte Zuschauer wie mich, ist es nicht so richtig nachvollziehbar, wieso es zu diesem Problem überhaupt kommen musste. Das Dach, so meine ich, hätte doch einfach bereits am ersten Ferientag, Ende Dezember, abgedeckt werden können. Dann wäre jetzt längst alles fertig. Stattdessen wurde es erst vor Karneval abgedeckt, also am ersten Schultag nach den großen Ferien. So geraten die Dachdecker obendrein noch in die ersten Regenfälle, die traditionell hier im Nordosten nach Karneval nieder gehen. Vermeidbare Komplikationen, könnte man meinen.

Kürzlich veröffentlichte die Unesco ihren jährlichen Weltbildungsbericht, der die weltweiten Fortschritte auf dem Weg zum Milleniums-Ziel „Bildung für alle“ misst. Darin zeigte sich, dass Brasilien insgesamt weit mehr im Verzug ist als mit einem Schuldach. Das größte Land des südamerikanischen Kontinents, das die globale Krise so außergewöhnlich gut überstanden hat, und das wirtschaftlich in so rasantem Tempo auf die vorderen Plätze im weltweiten Vergleich vorprescht, liegt im Bildungsvergleich auf dem 88. Platz. Hinter den ärmsten Ländern Südamerikas wie Bolivien, Ecuador und Paraguay.

Eine andere Untersuchung zeigte, dass die besten Pädagogik-Studenten eines Jahrgangs sich nicht für den Lehrer-Beruf interessieren. Kein Wunder. Grundschullehrer verdienen hierzulande immer noch kaum mehr als den gesetzlich festgesetzten Mindestlohn von momentan umgerechnet rund 200 Euro. Davon kann keine Familie leben. Die Unesco-Untersuchung über Lehrer in Brasilien belegt, dass die Hälfte der brasilianischen Lehrer aus Familien der Unterschicht stammt, und 68 Prozent selbst ausschließlich staatliche Schulen besucht haben. 81 Prozent sind Lehrerinnen. Obwohl das Gesetz auch bei Grundschullehrern eine universitäre Ausbildung vorschreibt, haben die heute angestellten Lehrer im Schnitt 14 Jahre Schul- und Unibesuch vorzuweisen – nicht genug für einen Universitätsabschluss, meist nicht einmal genug für Kenntnisse in nur einer Fremdsprache. 20.000 Lehrer haben maximal acht Schuljahre absolviert. Laut einer Schätzung des Bildungsministeriums sollen mehr als eine halbe Million Lehrer ohne ausreichende Ausbildung lehren. Solche Daten verbreitet die brasilianische Regierung naturgemäß nicht so gern.

Bislang ging es der Regierung Lula hauptsächlich darum, möglichst viele Schüler überhaupt zum Schulbesuch zu bewegen. Dafür war die Unterstützung „Bolsa familia“, die nur ausgezahlt wird, wenn die Schule regelmäßigen Besuch bescheinigt, eine große Hilfe. Heute besuchen 97,6 Prozent der schulpflichtigen Kinder tatsächlich eine. Und die restlichen 680.000 werden innerhalb eines speziellen Programms gerade vom Erziehungsministerium identifiziert – vor allem unter der indigenen und der ländlichen Bevölkerung. Diese Zahlen werden regelmäßig gefeiert und sind ja auch wirklich schön anzusehen.

Langsam ist es also an der Zeit, genauer nachzufragen, was die Schulbesucher in der Schule eigentlich tun: Nahezu ein Drittel aller Schüler besucht eine Klasse, die dem jeweiligen Alter nicht angemessen ist. Jeder fünfte bleibt mindestens einmal sitzen. Jeder vierte Brasilianer über 15 Jahre ist funktionaler Analphabet: Er kann zwar einfache Sätze lesen und zu Papier bringen, ist aber nicht in der Lage, komplexere Texte zu verstehen oder eigene Ideen schriftlich auszudrücken.

Wie viel Hoffnung darf man haben, dass es einem Land gelingt, die öffentliche Bildung zu verbessern, wenn es einer Dorfschule nicht möglich ist, nötige Renovierungsarbeiten in die Ferien zu legen? Oder vergleiche ich da gerade Eier mit Nüssen?

foto: wollowski

Montag, 15. Februar 2010

Wer zu spät kommt, trifft die Dämonen


Die Evangelikalen brüllen ihre Predigten noch lauter als sonst. Sogar die Candomblé-Priester rufen ihre Söhne und Töchter zusammen, zu einer pre-karnevalesken Reinigungs-Zeremonie. Als Schutz vor den Dämonen, die in diesen hemmungslos tollen Tagen so ungehemmt durch die Straßen jagen.

Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, am Eröffnungsabend am Freitag in der frischen Brise am Marco Zero in Recifes Altstadt zu stehen und das Konzert von Zeca Baleiro zu hören. Bloß klemmte ich länger als erwartet in diversen Bussen, die allesamt nicht ihre normale Route, sondern um die „Folia“ genannten feiernden Massen herumfuhren. Die ersten zwei Kilometer des verbliebenen Fußwegs gingen schnell – dann näherte ich mich der Folia.

Die drängte sich zutraulich zusammen wie eine betrunkene Schafherde und stank wie ein Müllwagen. Zu durchdringen war sie nur, wenn man sich an einen möglichst aggressiven Tremzinho anhing: so heißen die Zweck-Polonaisen, in denen sich Freundesgruppen im Karneval durch die Massen quälen. Dunklere Straßen waren zwar weniger bevölkert, dafür aber von Lachen und Seen eindeutiger Herkunft bestanden. Die Pinkler suchten sich längst nicht mal mehr dunklere Straßen, sondern drehten sich mitten in der Folia mal eben zur Seite an die Brücke, an das nächste Auto, an eine Plakatwand zur ungezwungenen Erleichterung. Ebenso ungezwungen schütteten sie sich gleichzeitig allerlei alkoholische Getränke ins Hirn.

Als ich es – nicht zur Bühne, die war unerreichbar – bis zu eine der Großleinwände geschafft hatte, sagte Zeca Pagodinho gerade : „Danke, Recife!“ – und dann erklärte einer der Organisatoren, es gäbe ja noch vier weitere Tage Karneval, wir sollten also nicht traurig sein! Traurig wurde ich erst, als ich die Schlangen am Busbahnhof sah.

Drei Sicherheitskräfte mit Schlagstöcken versuchten, die Wartenden aus zwei konkurrierenden Warteschlangen per Reißverschlussverfahren in einen Bus einzufädeln bis der randvoll war. Dertweil stürmten ungesicherte Horden zwei weitere Busse, die unvorsichtigerweise bereits auf dem Weg zur Haltestelle ihre Türen geöffnet hatten. Aus einem dröhnten Hilferufe, es gäbe eine Schlägerei. Die Sicherheitskräfte zögerten kurz, erkannten dann aber, dass es, wendete sie sich der Schlägerei zu, voraussichtlich hier, wo sie jetzt standen, auch nicht mehr länger friedlich zugehen würde. Also blieben sie wo sie waren.

Ich schaffte es in den vierten Bus auf den letzten verfügbaren Platz. Als ich mich auf den bierklebrigen Sitz niederließ, drängte eine kleine Folia aus vielleicht sechs Leuten hinter mir in den Wagen. Sie stimmten alsbald in den höchsten Tönen fröhliche Karnevalslieder an, wie „Pega, pega minha rola*“, wobei ein Kleingewachsener mit nackte Oberkörper, der vor Anstrengung und Männlichkeit einen ziemlich strengen Geruch entwickelt hatte, mit voller Wucht gegen die Busdecke hämmerte. Erstaunlicherweise gab das keine Dellen, also versuchte der junge Wilde es mit den Füßen.

Danach fiel der fröhlichen Truppe eine vermutlich sinnlich gemeinte Schunkelvariante ein, bei der die Männer ihre Leibesmitte eng aneinander drängten und im Takt ihres Gesangs möglichst synchron vor und zurück schwankten. Gelegentlich geriet einer dabei ein wenig aus der Spur und torkelte einem Mitreisenden auf den Schoß. Aus anderen Bussen, die neben unserem im Stau standen, staunten uns langweiligere Passagiere zu. Mein Sitznachbar nahm einen tiefen Schluck aus seiner mitgebrachten Bierdose und kommentierte das Geschehen: „Alles Karneval, alles Spaß!“

Ich würde eher sagen: Wer im Karneval zu spät kommt, trifft die Dämonen.

foto geshen bei: g1.globo.com
 
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