Freitag, 30. Januar 2009

Der Jeitinho in der Krise


In jedem Reiseführer steht er beschrieben: der brasilianische Jeitinho, der auch in der größten Unmöglichkeit immer noch einen Ausweg möglich macht, mit viel Kreativität, Flexibilität und Sinn für Humor – nur manchmal gefährlich nah an der Grenze der Gesetze. Per Jeitinho habe ich schon einen Augenarztbesuch für die Hälfte des üblichen Honorars bekommen – weil ich nicht mehr Geld dabei hatte und ein Notfall war. Ich habe illegal Käse eingeführt – weil ich beinahe in Tränen ausgebrochen bin, als der Zöllner mir erklärte, dass Käseeinfuhr verboten sei und meine Kostbarkeiten von Rechts wegen in den Müll müssten. Ich habe Banken nach Ende der Öffnungszeit betreten und von Busfahrern Kekse geschenkt bekommen, kurz: Ich habe gelernt, dass es keine ausweglosen Situationen gibt. Nach all den wunderbaren Ausnahme-Regelungen der letzten Jahre lautet meine normale Reaktion auf eine unangenehme Sachlage inzwischen: „Lässt sich da denn kein Jeitinho finden?“ Es lässt sich meistens einer finden.

Sogar in der Krise. Die zwar laut Lula das Land höchstens streifen wird, aber trotzdem bereits hier und da zu spüren ist. Zum Beispiel bei den Angestellten in der Motorradfabrikation in Manaus. Der Verkauf von Motorrädern ist stark zurückgegangen, die Produktion läuft lahm. Mit Jeitinho haben die Firmen trotzdem 4000 drohende Entlassungen verhindert. Ihr Rezept ist einfach: Kurzarbeit. Die Monteure schuften einen Tag weniger pro Woche, genießen ein langes Wochenende und behalten alle ihren Job. Der Clou dabei: Das geht ohne Lohnkürzung. Weil die Firmen sich ausgerechnet haben, dass sie an dem einen Tag pro Woche so viel an Strom, Transportkosten und Kantinenessen einsparen, dass sie den Arbeitern getrost die normale Summe auszahlen können. Außerdem hat die Firma die nicht gearbeiteten Stunden sozusagen gut: Sobald das Auftragsvolumen wieder steigt, können sie ihre Jungs so lange kostenlos zu Überstunden verpflichten, bis das Konto wieder ausgeglichen ist. Das spart Bürokratie-Aufwand, Unmut unter den Arbeitern und bares Geld.

Schlechter dran sind die Müllsammler: Sie bekommen wegen der gesunkenen Rohstoffpreise nur noch 5 Centavos pro Kilo Alteisen - und damit ein Sechstel dessen, was die Schrotthändler ihnen noch im November letzten Jahres bezahlt hatten. Kupfer und Plastikflaschen bringen noch die Hälfte, Aludosen ein knappes Drittel und Pappe ein Viertel des alten Preises. Wenn man bedenkt, dass der normale Müllsammler ohnehin bis zu zwölf Stunden am Tag unterwegs ist, kann er die Verluste durch Mehrarbeit kaum ausgleichen: Da steckt dann sogar der Jeitinho in der Krise.

Foto: Papiersammler Gilson in Rio de Janeiro am Ende eines Arbeitstages (wollowski)

Samstag, 24. Januar 2009

Effizienz gegen Boxer und für Terroristen


Erinnert sich noch jemand an den Fall der kubanischen Boxer? Die im vergangenen August bei den panamerikanischen Spielen in Rio verschwanden, einen Vertrag mit einem deutschen Promoter unterschrieben – und bevor sie nach Deutschland ausreisen konnten, von der brasilianischen Polizei an einem Strand aufgegriffen wurden, als sie gerade den Sonnenuntergang betrachteten? Aufgegriffen, verhaftet und in Rekordzeit nach Kuba abgeschoben? Bis heute ist unklar, ob die ungewohnte Effizienz bei dieser Aktion auf ein kleines Telefonat unter den Amigos Lula und Fidel zurück zu führen ist oder nicht. Justizminister Tarso Genro leugnete damals jegliche Einflussnahme der kubanischen Regierung auf den Fall.

Dieses Mal hat Lula den bewiesenen Bitten der italienischen Regierung nicht nachgegeben. Battisti wird nicht ausgeliefert, sondern darf hier bleiben. Als politischer Flüchtling. Zu Hause drohe ihm Gefahr für sein Leben, sagt Minister Tarso Genro über den Asylbewerber, der in Italien für zweifachen Mord und zweifacher Beteiligung an Morden zu lebenslänglicher Haft verurteilt ist. Er habe keine Gelegenheit zu seiner Verteidigung gehabt, sagt Tarso über den 54jährigen, und: Sei Battisti rechter Extremist, wäre seine Entscheidung nicht anders ausgefallen. Von wegen, schimpfen Kritiker. Tarso habe nach dem Gefühl entschieden. Nur weil der ehemals selbst militante Linke mit dem Italiener sympathisiere, habe er Battistis Asylantrag statt gegeben.

Dafür spricht die Tatsache, dass Tarso Genro im Fall Battisti auf das üblicherweise vorgeschriebene Urteil des Obersten Gerichtshofes verzichtete und lieber gleich selbst den Fall regelte – gegen die Analysen sowohl des Nationalen Flüchtlingskomitees als auch der Oberstaatsanwaltschaft. Das diplomatische Verhältnis zwischen Italien und Brasilien hat das empfindlich gestört. Auch andere europäische Stimmen reagierten kritisch: Der britische Economist schreibt sarkastisch, in Rio lasse es sich für europäische Verbrecher offensichtlich gemütlich leben. Schließlich hatte schon der britische Posträuber Ronald Briggs viele Jahre ungestört in Rio gelebt, statt in England seine Strafe abzusitzen.

Battisti erwartete seit 2007 in Haft in Rio das Urteil über seinen Asylantrag. Er leugnet jede Beteiligung an den Morden in den 1970er Jahren. Laut Tarso Genro stützt sich seine Verurteilung auf die Aussage eines einzigen Zeugen – ebenfalls ehemaliges Mitglied der linksextremen Organisation PUC, die der Roten Brigade nahe stand. Vielleicht ist Battisti tatsächlich zu Unrecht verurteilt. Vielleicht ist er sogar tatsächlich in italienischen Gefängnissen lebensgefährdet.

Aber was verleitet den brasilianischen Justizminister zu der Annahme, in Rio sei Battisti sicherer? Dafür fehlt es der hiesigen Polizei womöglich doch noch an Effizienz.

Fotos: www.tribunalatina.com und www.republicca.it
 
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