Wer auf einem Boot lebt, verrichtet dort alle Alltagstätigkeiten, vom Waschen und Kochen bis zum Zähneputzen und Haare-Kämmen. In Brasilien hat der Kurzhaarschnitt für Frauen bestenfalls in Metropolen wie Sao Paulo oder Rio bescheidenen Einzug gehalten, für die absolute Mehrheit der Brasilianerinnen ist eine üppige lange Mähne der Inbegriff von weiblicher Schönheit. So auch für die meisten Bootsbewohnerinnen. Wenn diese während der Fahrt auf ihrem Boot ihre langen Haare kämmen, passiert es: Das Haar verfängt sich in der Schraube des ungeschützt offenliegenden Motors, wird aufgewickelt bis an die Haarwurzel – und dann reißt die Motorkraft der Frau den Skalp vom Kopf. Manchmal nur einen Teil der Kopfhaut mit Haaren, manchmal die kompletten Haare, manchmal inklusive Augenbrauen oder sogar Ohren und Teilen der Gesichtshaut. Manche Frauen sterben an den Unfallfolgen, alle werden grausam verunstaltet.

Anfang 2010 hat Lula ein Gesetz verabschiedet, das den 28. August zum Tag des Skalpierens erklärt. Kürzlich wurde zudem beschlossen, dass den Skalpierten eine gesetzliche Entschädigung von umgerechnet etwa 1450 Euro zusteht. Das ist selbst in Brasilien kaum genug für eine Schönheits-OP, die den Frauen ein normales Aussehen zurückgäbe. Die Vorsitzende der Vereinigung skalpierter Frauen, Maria do Socorro Pelaes Damasceno, verlor ihren Skalp als Siebenjährige und hat bereits diverse OPs hinter sich, in denen ihr Gesicht wieder hergestellt werden sollte. Bislang ohne zufriedenstellendes Ergebnis. „Wir fordern, dass Chirurgen, die OPs zur Wiederherstellung durchführen, in unseren Bundesstaat kommen, denn wir haben nicht die nötigen Mittel, um zu ihnen nach Sao Paulo oder Rio zu reisen“, sagt Maria
Obwohl bereits im Juli des vergangenen Jahres ein weiteres Gesetz verabschiedet wurde, welches den Einsatz ungeschützter Motoren auf Booten verbietet und mit Bußgeldern sowie Bootsführerscheinentzug bestraft, geht das Skalpieren weiter. „Wie sollen wir denn unseren eigenen Vater oder Ehemann anzeigen, wenn dieser unseren Lebensunterhalt verdient?“, gibt Maria do Socorro zu bedenken.
Hat mal jemand daran gedacht, dass der gesetzlich geforderte Schutz zu teuer sein könnte, für Menschen, die sich nach einem Unfall nicht einmal eine Perücke leisten können? Oder dass es vielleicht mehr Wirkung zeigen würde, Schutzvorrichtungen zu stiften, anstatt Strafen zu verhängen?
foto: Die Vorsitzende der Vereinigung skalpierter Frauen, Maria de Socorro, verlor außer ihrem Skalp auch beide Ohren (Antonio Cruz, Agencia Brasil)