Donnerstag, 28. Dezember 2006

Maresia - die rätselhafte Kraft der Zerstörung

Am Meer wohnen ist wunderbar. Abends mit den Wellen einschlafen, morgens mit den Wellen aufwachen, tagsüber mit Blick auf die Wellen arbeiten. Ein Traum. Wenn die Maresia nicht wäre.

Zuerst hat sie mein Handy erwischt. Neu in Deutschland gekauft und direkt importiert. Nach zwei Wochen Maresia ist das Display plötzlich erloschen. Dann folgte die Mikro-Anlage. Ebenfalls neu. Spielt MP3 und CDs und überhaupt alles ab und klingt für ihre lächerliche Größe gar nicht schlecht. Klang nicht schlecht, muss ich wohl besser sagen. Nach drei Wochen Maresia spielt sie nämlich nur noch ein bis drei Stücke und hört dann einfach auf. Das Diktiergerät hat im Vergleich ziemlich lange überlebt. Ich hatte es mehrere Monate nicht benutzt, und als ich es kürzlich aus dem Schrank holte, war es gelbgefleckt und tot: Die Batterien sind ausgelaufen.

„Ganz klar, das ist die Maresia!“, urteilt mein Nachbar. „Die funktioniert hier direkt am Meer besonders schnell und schmerzhaft.“ Der Mann muß es wissen, denn bei ihm ist das mit der Maresia noch viel schlimmer. Ricardo ist Grafiker, und zurzeit schaltet er jeden Morgen mit Herzklopfen seinen PC an. Manchmal bootet der dann, manchmal aber auch nicht: Wenn die Maresia sich mal wieder an irgendwelchen Kontakten zu schaffen gemacht hat. Der PC ist neu. Den alten hatte die Maresia schon komplett geschafft.

So hübsch ihr Name Maresia klingt, so lebensgefährlich sind die Attacken der salzigen Meeresbrise, vor allem auf Maschinen. Ich lerne gierig alle Tricks, wie ich mich gegen sie wehren kann. Ricardo etwa hüllt seine neue Digitalkamera in Frischhaltefolie, bevor er Surffotos macht – nachdem die Maresia den Motor der alten gefressen hatte. Er hat kleine Säckchen aus Stoff genäht, die er mit Silicagel füllt und in TV, PC, Drucker, Scanner und andere Geräte stopft – in der Hoffnung, daß sie dadurch trocken und heil bleiben. Ich schalte außerdem meinen Fernseher mehrmals täglich an – unabhängig davon, ob ich eine Sendung sehen will: die Hitze des Stromkreislaufs hält die Kontakte trocken – hoffe ich. Ich wachse meinen Kühlschrank und meinen Herd – seit ich bemerkt habe, wie die neuen Geräte schon nach wenigen Monaten Rost ansetzen. Ich öle mein Fahrrad komplett ein, entferne Batterien aus Geräten, die nicht ständig in Betrieb sind, packe den Laptop jedesmal weg, wenn ich ihn nicht benutze, und das Handy in eine Plastiktüte, wenn ich an den Strand gehe. Und hoffe jeden Abend, daß meine Arbeitsgeräte morgen noch funktionieren.

„Ideal wäre so eine Art Aquarium“, meinte Ricardo heute. „Ein kleiner Glaskubus, in dem man einen Luftentfeuchter an- und sich selbst mit allen Arbeitsgeräten einschließt: Da soll sie mal versuchen, reinzukommen, die Maresia.“ Ricardo kam vorbei, weil sein neues Handy plötzlich erloschen war. Er wollte wissen, ob ich übergangsweise ein Ersatzgerät für ihn hätte. „Nur eins, bei dem das Display erloschen ist“, sagte ich. „Macht nichts“, meinte er. Also nahm ich das alte Maresia-Opfer aus dem Schrank und schaltete es probeweise an. Das Display leuchtete, als sei das nie anders gewesen. Versteh’ einer die Maresia!

Montag, 25. Dezember 2006

Chaos am Fest der Liebe

Irgendwann tat die Sekretärin Miriam, was in diesem Moment vermutlich viele gern getan hätten: Sie nahm den Computer der Fluggesellschaft TAM und warf ihn auf den Boden. Miriam wollte eigentlich keine Computer werfen, sie wollte nach Hause und Weihnachten feiern. Auch in Brasilien ist Weihnachten ein Fest, das traditionell in der Familie gefeiert wird. Deswegen sind Flüge und Überlandbusse im ganzen Land oft schon Wochen im voraus ausgebucht. Das kennt man, darauf stellt man sich ein, und die Brasilianer sind normalerweise fröhliche und gelassene Schlangesteher. Aber in diesem Jahr war alles ein bißchen anders.

Am 23. Dezember starteten mehr als die Hälfte aller Flüge mit mehr als einer Stunde Verspätung, manche wurden ganz gestrichen, manche um halbe Tage verschoben. Am internationalen Flughafen von Sao Paulo reichte die Kilometerlange Schlange der Wartenden bis auf die Strasse vor dem Flughafengebäude. Als in Rio de Janeiro den ersten die Nerven durchgingen, kam die Polizei, um gröbere Raufereien zu verhindern. Auch Miriam, die Computerwerferin, wurde vorübergehend festgenommen. Dabei hatte sie zwölf Stunden gewartet, ohne zu klagen: Ihr Flug in den Nordosten hätte schon am Vorabend um 23 Uhr starten sollen. Er wurde erst auf 3 Uhr morgens und dann auf 7 Uhr verschoben. Miriam wartete mit Hunderten anderer Passagiere, die die Nacht auf dem Fußboden der Abfertigungshalle verbrachten. Miriam war lange gefaßt. Erst als sie nach all den Stunden feststellen musste, daß ihr Flug soeben ohne sie gestartet war – da flog der Computer. Die Konsequenz: Miriam stellt „eine Gefahr für die anderen Passagiere dar“, und die TAM muß sie nun gar nicht mehr transportieren.

Angefangen hat das ganze Flugchaos mit dem Unfall der GOL-Maschine im September. In der Folge durften die hoffnungslos überlasteten Fluglotsen nur noch die gesetzlich zugelassene Menge Maschinen überwachen – und es gab die ersten Engpässe und Verspätungen. Flutartige Regengüsse in Sao Paulo, Wartungsarbeiten an mehreren Maschinen und reichlich Überbuchung bei der größten brasilianischen Fluggesellschaft TAM reichten im Vorweihnachtsrummel aus, um das Land vollends ins Chaos zu führen. Der TAM wurde zwischenzeitlich weiterer Ticketverkauf untersagt. Und Präsident Lula stellte acht Maschinen der Luftwaffe zur Aushilfe im Personenverkehr bereit, um zu retten, was noch zu retten war.

Die Rettung kam für viele spät: Sie verbrachten den Heiligabend im Flughafengebäude. Für Streits hatten die meisten keine Kraft mehr. Wer heute morgen gegen drei Uhr immer noch in den langsam kürzer werdenden Schlangen stand, wirkte nur noch apathisch, heißt es in den Meldungen der Medien. Um fünf Uhr morgens war es endlich geschafft: Der Flughafen von Sao Paulo war leer, und auch aus den anderen Grosstädten wurden keine Schlangen mehr gemeldet. Inzwischen sind vielleicht endlich alle irgendwo angekommen. Ob auch Miriam, die Computerwerferin nach Hause gekommen ist, hat leider niemand berichtet. Dabei heißt die Heimatstadt der verzweifelten Sekretärin ausgerechnet „Natal“ – zu Deutsch: „Weihnachten“.

Donnerstag, 21. Dezember 2006

Das fluchende Aschenputtel

Das Aschenputtel heißt Tati und hat es geschafft: Letzte Woche war sie der Wochenzeitschrift Veja eine Doppelseite wert – und vielleicht ist das noch nicht mal das Ende des Märchens.

Es beginnt vor ein paar Jahren, als Tatiana Santos Lourenco noch in einer Kinderkrippe in der Favela Cidade de Deus kocht, 92 Kilo wiegt, und außer ein paar guten Partys nicht viel vom Leben erwartet. Eines Nachts steigt sie auf eine wackelige Bühne in einer der düsteren Buden voller Partywilliger ohne Geld, in denen in Rios Slums „Baile funk“ gefeiert wird. Damals kommen noch keine Muttersöhnchen zu den Bailes. Damals finden nur die anderen Mädels aus der Favela ziemlich gut, was die Dicke da auf der Bühne macht. Tati tut so, als gelte für sie kein Modediktat. Sie quetscht sich in die schlauchartigen Lycrajeans der angesagten Marke „Gang“, läßt den Bauch über den Bund schlabbern und dröhnt los. „Ich bin häßlich, aber ich bin in Mode“ heißt der Titel ihres erster Hits.

Bald schwappt der Funk Carioca auf die andere Seite der Welt: Die Musikgattung mit den simplen Melodien und den peitschenden Rhythmen, mit den einfältigen und eindeutigen Texten und den vulgären Choreografien gefällt den Wohlstandskindern überall. In Brasilien fehlt inzwischen auf keiner Party, in keiner Clubnacht der Funk, es gibt TV-Sendungen darüber, Miss-Funkeira-Wahlen und Fansites. Und in den Clubs in London, Paris, Barcelona und Berlin versuchen die europäischen Kids, ihre Hüften ebenso provokant kreisen zu lassen, wie die Brasilianerinnen.

Tati wird zum Star. Kein Wunder. Wir wollen auch so sein wie Tati. So ungeniert. So frech. So rotzig.

Die Frau schämt sich für nix. Erzählt freiwillig in der Reportage der Veja, daß sie sich nicht mehr an die Zahl ihrer Lover erinnern kann. Dass sie inzwischen mehr als 900 Gang-Jeans und 200 Paar Turnschuhe besitzt – danach hat sie aufgehört zu zählen. Dass sie mindestens 20 Schönheitsoperationen hinter sich hat und damit noch lange nicht Schluß ist. Von den 92 Kilo sind nur noch 57 übrig. „Alles abgesaugt“, sagt Tati stolz: „Allein am Rücken waren das neun Liter. Ich mach keine Diät, ich esse alles und viel davon!“

Tati ist jetzt 27 und hat sich von 300 Reais Mindestlohn vor ein paar Jahren auf bis zu 250.000 Reais im Monat verbessert. Das hat bisher für 15 Mietwohnungen in der Cidade de Deus, für ein Haus in Rio und eine Wohnung in Sao Paulo gereicht. „Sie ist bescheiden geblieben“, behauptet die offizielle Website. Tatsache ist: Tati wohnt immer noch in der Cidade de Deus und kennt die Kumpels von früher. Sie ist kaufsüchtig, zahlt ihrer Mutter 100 Reais am Tag dafür, daß die ihre Wohnung putzt, aber sie verschenkt nix und spendet nix. Sie mag keine Schecks, weil „die nur Illusion sind“, und läßt niemanden ihr Geld verwalten, weil „ich ja morgen wieder arm sein könnte".

Tati ist nicht bescheiden. Sie ist laut und provokant und vulgär wie vorher - nur eben mit viel mehr Geld. Ihr Künstlername „Quebra-Barraco“ heißt übersetzt: „die die Hütte zusammen schlägt“. Genau deswegen lieben wir sie: weil sie um sich schlägt, wenn ihr was nicht paßt, Egal wo. Letztens hat sie einem TV-Ansager, der seine kümmerliche Show mit ihrer Präsenz bis zum Schluss aufwerten wollte, ins Gesicht gesagt: „Ich hab jetzt in deiner verfickten Show gesungen und das wars, ich bleib hier verdammt nicht mehr, ich hau jetzt ab.“ Und weg war sie.

Tati pfeift auf PR, sie ist wie sie ist. Das ist ihre beste PR. Das ist das Märchen. Und das wünschen wir uns auch: Nicht wie das Original-Aschenputtel in der Ecke am Herd warten, bis der Prinz uns rettet. Sondern fluchen, wenn uns danach ist und überhaupt einfach sein, wie wir sind - und genau damit ganz groß rauskommen.

Inzwischen erwartet Tati eine Menge vom Leben. Ihre nächsten Pläne: Silikonimplantate in den Allerwertesten pflanzen, einen Jeep Marke Hilux kaufen, ein Restaurant-Club aufmachen, für Aktfotos Modell stehen...

* ein Real entspricht zurzeit etwa 0,35 Euro

Samstag, 16. Dezember 2006

Bei Galego: Kokoswasser und Politik

Galego lebt in einer kleinen Box: an drei Seiten geschlossen, zur Strasse hin offen, und vollgestopft mit allem, was der Mensch so braucht. Laut Ladenschild gibt es bei Galego „Frutas e Verduras“, Obst und Gemüse. Unter anderem kaufen tatsächlich bei Galego Hausfrauen das tägliche Obst und Gemüse ein. Obwohl gleich neben der Kasse eine großes Schild verkündet: „Auf Pump geht gar nichts“, dürfen die Stammkunden natürlich bis zu einer bestimmten Summe anschreiben lassen.

Außerdem ist Galegos Laden ein Öko-Imbiss: Wenn die Surfer hungrig und durstig vom Strand kommen, machen sie gerne bei Galego Pause auf ein frisches Kokoswasser gleich aus der Nuß und ein paar Scheiben Wassermelone oder eine Handvoll Weintrauben. Für Kinder ist Galego das Büdchen: In einem guten Dutzend Plastikdosen bewahrt er Erdnussbutterplätzchen, Erdnußkrokant, Lakritze, Kaugummi und andere Delikatessen auf. Und schliesslich gibt es bei Galego auch Schreibhefte, Quittungsblocks, Zahnbürsten, Shampoo, Nähnadeln, Besen, Staubtücher, Kugelschreiber und Haargummis. Und Zeitungen und einen Fernseher neben der Kasse, damit Galego nicht langweilig wird, wenn gerade keine Kunden da sind.

Galego macht morgens in aller Herrgottsfrühe auf und abends erst zu, nachdem er die Abendnachrichten angesehen hat. Spätestens dann sind seine Ansichten zum aktuellen Polit-Geschehen gereift und er diskutiert die kommentierte Kurzfassung der Tagesschlagzeilen gerne mit seinen Kunden. Gestern lautete die Schlagzeile in beiden konkurrierenden Tagszeitungen, die bei Galego aushängen: Gehaltserhöhung Senatoren 92 Prozent, Gehaltserhöhung Arbeiter 7 Prozent. Das ist wirklich wahr. Die Senatoren haben sich in einem Akt größter Einigkeit untereinander selbst eine Diätenerhöhung von bislang monatlichen 12.800 Reais (rund 4570 Euro) auf neuerdings 24.600 Reais (8780 Euro) im Monat bewilligt.* Angeblich haben sie sich dabei an Minister-Gehältern orientiert. Nun gibt es allerdings etwas mehr Senatoren als Minister im Land, und so kostet die neue Gehaltsklasse den Steuerzahler jeden Monat mehr als 100 Millionen Reais. Das sind keine Extrakosten, behaupten die Politiker, wird alles an anderer Stelle eingespart. Für normale Arbeiter kann leider niemand so leicht eine ähnlich saftige Gehaltserhöhung einsparen.

Galego regt sich auf: „Die brasilianischen Wähler sind wirklich ein Haufen Idioten." Ein Kunde fragt: "Wieso die Wähler?" Galego: "Na, wie können die nur solche Senatoren wählen, die ohnehin schon Hilfe für alles bekommen; Beihilfe zur Miete, Beihilfe zu Krawatte und Anzug, Beihilfe zum Nahverkehr – und dann kriegen die den Hals immer noch nicht voll!“ Ein verspäteter Surfer stimmt zu: “Ich verdiene 24.000 nicht mal im Jahr, und ich arbeite auf dem Bau schwerer als jeder Senator!“ Ein anderer Kunde findet: „Da weiß man wirklich nicht mehr, warum man überhaupt noch arbeiten geht.“ Galego wiegt ein paar Äpfel ab, packt ein paar Rollen Garn ein, hält inne, überlegt ein bisschen und sagt dann: „Deswegen geht es mit diesem Land nicht vorwärts: die einen schwitzen immer mehr, um das Allernötigste bezahlen zu können, die anderen genehmigen sich Fürstengehälter, dafür, daß sie gelegentlich mal ein Dokument unterzeichnen. Und wißt Ihr, was ich jetzt mache? Ich arbeite eh schon viel zu lang heute, ich geh jetzt auch nach Hause!“

* Der gesetzliche Mindestlohn soll von 350 Reais (125 Euro) auf 370 Reais (132 Euro) angehoben werden.

Dienstag, 12. Dezember 2006

38 Grad sind zu viel für den Weihnachtsmann

Natürlich gibt es hier Weihnachtsmänner. Auch wenn Weihnachten so gar keine tropische Tradition ist. Es gibt sogar Weihnachtsverkäuferinnen, Weihnachtskassiererinnen, Weihnachtsparkwächter und Weihnachtsköche. Will sagen: Die brasilianischen Unternehmer lieben das Weihnachtsfest und seine Symbole so, daß sich spätestens vier Wochen vor dem Fest alles eine rote Weihnachtsmütze mit weißem Bommel überstülpen muss, was irgendwie Publikumsverkehr hat. Was ich noch nicht gesehen habe, sind Geschäftsführer oder Banker mit roten Mützen. Hübsch wären auch mal Weihnachtspolizisten. Vielleicht ist deren Job zu ernst für die Mütze.

Vielleicht hat aber auch nur das Budget der Stadtverwaltung nicht gereicht und sie bekommen ihre Mützen im nächsten Jahr. Die Geldknappheit in den Stadtkassen ist leicht erklärt: Die Stadtverwaltung erläßt den Einkäufern gerade in diesen Wochen, in denen die Läden sogar sonntags öffnen und der ganze Nordosten in Recife sein letztes Geld auszugeben scheint, sämtliche Parkgebühren. Überall, wo Parken am Strassenrand erlaubt ist, parkt man im Dezember umsonst. Das muß man sich mal in München, Berlin oder Düsseldorf vorstellen. Ein Millionengeschäft lassen die sich hier entgehen. Weihnachtsbegeisterte eben.

Aus Begeisterung hängen jetzt außerdem alle Hausbesitzer Lichterketten auf: die günstigsten gibt es für knapp einen Euro, da reicht das Geld bei den meisten Familien sogar für zwei oder drei der schmückenden Accessoires. Besonders beliebt sind solche, die in mehreren Farben blinken, wie früher auf Schulparties – und noch besser kommen die an, die zusätzlich einen internationalen Weihnachtshit à la „Jingle bells“ musizieren. Praktischerweise wird es in den Tropen schon um sechs Uhr abends dunkel, da können die trötenden Lichterketten und ihre Besitzer sich besonders ausgiebig selbst verwirklichen. Manchmal wetteifert eine ganze Strasse um die hellsten, buntesten und lautesten Ketten, und manchmal singen die Dinger sogar im Kanon. Dass niemand Probleme hat, bei der visuellen und akustischen Berieselung zu schlafen, muß ich wohl nicht extra erklären.

Vermutlich bin ich die einzige im Großraum Recife, der es trotzdem nicht recht gelingen will, eine Weihnachtsstimmung zu entwickeln. Trotz Weihnachtsmützen, Weihnachtslichterketten und Weihnachtsbäumen voller Flitter und Kugeln. Bei Kiefern und Tannen handelt es sich normalerweise um liebevolle, nahezu naturidentische Nachbildungen aus Plastik. Im Vorgarten werden aus Tannenmangel gerne mal Bananenstauden verpflichtet. Bananen am Weihnachtsbaum? Kann vorkommen. Sogar Palmen können Kugeln tragen, und selbst Birkenfeigen steht Lametta gar nicht schlecht.

In Schaufenstern hingegen bemühen sich die Dekorateure erfolgreich um höchstmögliche Authenitizität: von Elchen gezogene Schlitten sausen da auf Watteschnee durch die vollklimatisierte Gegend. Auf den schicken Schlitten thronen Weihnachtsmänner mit Rauschebärten und dicken Bäuchen und sehen sehr ehrwürdig aus. Ihre lebenden Kollegen auf der Strasse haben mehr zu tun. Pausenlos säuseln sie diensteifrig in ihr Mikro: „Treten Sie näher meine Damen und Herren, nie hat es so billige Uhren gegeben, wie heute hier im Uhrenparadies“, behaupten sie - oder was der Job eben sonst verlangt. Dabei läuft Ihnen der Schweiß unter der Mütze aus Synthetik hervor und rinnt bis in die Rauschebärte aus Watte. Gelegentlich kratzen sie sich verstohlen unter dem dicken Bauch. Weihnachten ist eben so gar keine tropische Tradition. Und 38 Grad Hitze sind zu viel für jeden Weihnachtsmann.

Sonntag, 10. Dezember 2006

Trommeln für die Götter

Wenn die Sklaven ihre Feste feierten, stopften sich die Kolonialherren Watte in die Ohren und taten, als hörten sie die Trommeln nicht. Sie konnten den Sklaven das Feiern nicht verbieten, sie hatten es versucht und die Sklaven hatten heimlich weiter gefeiert, wenn die Götter es so wollten. Vielleicht waren die Verbote auch halbherzig geblieben, weil die weißen Kolonialherren Angst hatten vor der Macht der religiösen Rituale, vor Verwünschungen und schwarzer Magie. Das weiß heute keiner mehr so genau.

Magie jedenfalls gehört hier zum Alltag. In ihrer banalisierten Form tritt sie zum Beispiel als Badezusatz auf, der dem Käufer und Badenden für umgerechnet 40 Eurocents Freunde und Reichtum verschafft, ihn vom bösen Blick befreit oder einen begehrten Mensch in Liebe entbrennen läßt. Zu solchen Mittelchen kann jeder greifen, unabhängig vom Glauben. Flyer preisen die Dienste von Wahrsagerinnen, die gegen Gebühr das traditionelle Candomblé-Orakel aus Kaurimuscheln befragen – ebenfalls unabhängig vom Glauben. Von den komplizierten und vermutlich wirksameren Ritualen der „Terreiros“, der echten Glaubensgemeinschaften, findet der Laie bestenfalls Spuren: Auf einsamen Wegen liegen gelegentlich Hühnerfedern und Schnapsflaschen, oder Perlen und halbabgebrannte Kerzen – Reste eines Opferrituals oder eines „Trabalho“, eines Rituals, mit dem jemandem Gutes oder Schlechtes angetan werden kann. Candomblé ist kein Hokuspokus und hat im modernen Brasilien durchaus prominente Anhänger: Kultusminister Gilberto Gil bekennt sich dazu, ebenso wie der halbe Stadtrat von Bahia. So offen wird die Religion allerdings bis heute nur im schwarzen Salvador da Bahia praktiziert, wo sogar Touristen in Busladungen zu den Festen der Terreiros gebracht werden. Hier in Recife lebt der Candomblé versteckt.

Deswegen halte ich es zunächst für eine Halluzination, als mitten im schicken Strandviertel Boa Viagem direkt an der Strandavenida ein Linienbus hält, aus dem Frauen in Reifröcken und Rüschenblusen steigen, Männer in Leinenhosen und weißen Hemden, ausschliesslich Weißgekleidete. Weiß ist die Farbe des Candomblé. Es ist acht Uhr abends und am Strand leuchten noch viel mehr weiße Gestalten. Manche tragen zum Weiß blaue Ketten oder blaue Haarbänder, und damit ist klar: Keine Halluzination, sondern ein Fest für die Meeresgöttin Iemanjá. Der 8. Dezember ist nicht nur der Feiertag der Heiligen Maria der Empfängnis, sondern auch der von Iemanjá – seit damals die afrikanischen Sklaven hinter jedem katholischen Gott einen ihrer Götter versteckt haben.

Es hat etwas von einer Filmszene, als sich die weiße Gesellschaft auf einer Art runder Tanzfläche am Strand versammelt und anfängt, uralte Gesänge in der afrikanischen Sprache Yorubá anzustimmen - direkt vor der urbanen Kulisse der mehrspurigen Strandavenida und der Wolkenkratzer. Ein paar Touristen kommen neugierig gucken – von den Bewohnern der schicken Apartmenthäuser ist niemand zu sehen. Vielleicht haben sie Angst vor schwarzer Magie. Immer lauter rufen die Trommeln, immer mehr Menschen drängen sich auf der kleinen Fläche, in deren Mitte immer mehr Blumen darauf warten, Iemanjá überreicht zu werden. Kurz vor Mitternacht spricht ein weißhaariger Herr ins Mikrofon. Er erklärt den Tanzenden, daß dieser Platz am Strand ihnen gehört, daß sie dieses Rund von nun an jederzeit für Rituale nutzen können. Die Stadtverwaltung hat sich den Traditionen gebeugt. Weil auch in der Stadtverwaltung manche vom „Santo“ sind, wie der Herr sagt. Weil die Vereinigung der Pai-de-Santos, der Priester des Xangó*, nicht nachgelassen hat in ihrem Kampf um die Anerkennung ihrer Religion. Der Candomblé hat sich ein Stück Boa Viagem erobert.

Punkt Mitternacht tragen die Gläubigen einen Berg weißer Blumen zu einem hölzernen Fischerboot. Damit werden die Opfergaben weiter draussen auf dem Meer an Iemanjá übergeben, wie seit Urzeiten. Oben auf der Tanzfläche gehen die Gesänge weiter, rufen die Trommeln weiter. Sie werden die ganze Nacht trommeln, bis zum nächsten Morgen. Weil das die Tradition und die Götter so wollen. Die Anwohner können sich ja Watte in die Ohren stopfen und so tun, als hörten sie nichts. So wie damals.



* In Recife heißt der Candomblé auch Xangó

Montag, 4. Dezember 2006

Auf der Suche nach dem Geburtstagskuchen

Brasilianische Bürokratie ist anders. Flexibler. Persönlicher. Sympathischer. Und manchmal sogar schneller.

Letztens rief mir Luciana abends auf der Strasse hinterher: „Komm mal wieder deine Post holen, ich habe einen aviso für dich!“ Das muß der Kuchen sein, dachte ich. Meine Mutter hat mir einen Geburtstagskuchen geschickt, und wo ich wohne, kommt keine Post an. In den Strandorten der Gegend gibt es weder Briefträger noch Postämter. Statt dessen hat jedes Dorf einen Einwohnerverein mit einem Vereinsgebäude und Postfächern für die Vereinsmitglieder. Wer Post bekommen will, muß zuerst Mitglied im Einwohnerverein werden, um einen Schlüssel für eine der bienenwabenkleinen Postfächern zu ergattern. Für knapp 60 Eurocents pro Monat und Mitglied sortiert Luciana, die Vereinsangestellte meines Dorfs, die Briefe in die Fächer. Kommen Sendungen, die nicht in die Waben passen – wie etwa Geburtstagskuchen – , hinterläßt der Postwagenfahrer einen „aviso“, einen Hinweiszettel, dass ein Päckchen im nächsten Postamt wartet. Und weil es nur eine kurze Zeit dort wartet, sagt Luciana in solchen Fällen Bescheid. Nach Feierabend, auf der Strasse und ganz ohne Dienstvorschrift oder Überstundenlohn.

Im 30 Kilometer entfernten Cabo de Santo Agostinho gibt es ein spezielles Postamt nur für die Strandorte. Eine Art Lieferanteneingang mit einem einzigen Schalter, an dem keine Briefe aufgegeben werden können, nur abgeholt. In kleinen mit Gummibändern zusammengehaltenen Stapeln wartet dort vor allem die Korrespondenz all derjenigen, die kein Postfach haben. Jeweils ein Stapel für jeden Ort, schön alphabetisch geordnet: Telefonrechnungen, Ratenzahlungsmahnungen, dazwischen sehr vereinzelt mal ein handgeschriebener Brief von Verwandten.

Seu Chico ist Herr über die Stapel. Während er konzentriert in den Umschlägen blättert, halten die Wartenden ein Schwätzchen. Eine dicke Frau im Kittel wartet auf Post von ihrem Sohn, jeden Montag kommt sie gucken, ob er geschrieben hat, so wie andere Leute sonntags in die Kirche gehen. Ein alter Mann im verschlissenen Anzug wartet auf seinen Rentenbescheid, fünfzig Jahre arbeitet er als Zuckerrohrpflücker, jetzt mag er nicht mehr. Seu Chico kennt die meisten Wartenden mit Namen. Die dicke Dame vorn in der Schlange muß ihm nicht mal ihren Ausweis hin halten, schon streift er das Gummiband vom Stapel „Suape“ und blättert die Briefe einzeln durch. Von A bis Z. Nichts vom Sohn für die Dame. „Wirklich nicht?“, fragt sie traurig und Seu Chico blättert freundlich noch einmal von Z bis A. Wirklich nichts.

„Deins geht ganz schnell“, beruhigt mich ein wartender Bürobote in Uniform, als er meinen aviso sieht. Tatsächlich, zielstrebig schlurft Seu Chico zu einem Aktenschrank und angelt einen dicken Umschlag herunter. Sorgfältig malt er die Nummer des aviso auf ein Formular, das ich unterschreiben muß, bevor er mir den Umschlag überreicht wie ein Geschenk. Für einen Kuchen ist er allerdings reichlich flach. Es sind Zeitschriften. Für 28 Euro per Luftpost aus Deutschland geschickt. Sie waren sechs Wochen unterwegs. Ob der Kuchen auch so lange braucht? „Wenn du die Registrierungsnummer hast, kannst du nachmittags Vladimir anrufen“, rät mir Seu Chico. Vladimir ist Herr über den Computer des Postamts. Er kann auf der Stelle herausfinden, wo mein Kuchen ist, verspricht Seu Chico und schreibt mir die Telefonnummer auf.

Nachmittags erreiche ich Vladimir. „Ich rufe gleich zurück“, sagt er, nachdem ich ihm das Problem geschildert habe. Zum Zeitvertreib fange ich an, mir das Schicksal meines Kuchens auszumalen: Von einem altersschwachen Postauto gefallen und im Strassengraben gelandet, Opfer von streunenden Hunden oder gar Ratten? Verschimmelt im tropischen Lagerraum einer schlampig organisierten Verteilzentrale? Verputzt am Kaffeetisch eines hungrigen Briefträgers? Nach kaum zehn Minuten klingelt das Telefon. Vladimir hat den Computer befragt. „Dein Päckchen ist nie bis nach Brasilien gekommen!“, sagt er. „Es ist noch in Deutschland. Du mußt dort nachforschen lassen.“ Oh je. Wer schon einmal einen Nachforschungsantrag bei der deutschen Post gestellt hat, weiss: Dafür sind umständliche Formulare auszufüllen. Abzustempeln. Einzureichen. Und die Bearbeitung dauert meistens deutlich länger als zehn Minuten.
 
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