Sonntag, 30. Dezember 2007

Missverständnisse am Jahresende

Heute habe ich meine weiße Jeans gewaschen, denn es ist ausnahmsweise mal tagsüber reichlich Wasser aus der Leitung gesprudelt – nachdem es in den letzten Wochen immer nur nachts oder morgens bis maximal 5 Uhr und meist nur spärlich getröpfelt hatte. Der Wassermangel ist hier jeden Sommer ein Problem, obwohl doch angeblich auf das brasilianische Amazonasgebiet als der größte Wasserlieferant des Planeten die meisten anderen Ländern der Welt begehrlich schauen. Die würden das Amazonaswasser – wenn sie es denn hätten - vermutlich problemlos in ihre entfernten Heimatländer schaffen, während es hier quasi um die Ecke dauernd nicht ankommt. Aber es geht mir mehr um die Hose. Denn morgen ist der letzte Tag des Jahres: Silvesternacht, in der jeder angemessen angezogen sein will, und das bedeutet in Brasilien weiße Kleidung.

Im ersten Jahr hier habe ich das nicht gewußt, und damit ging ein denkwürdiger Abend los. Weil mein damaliger Freund ein eher schweigsamer Typ war, rückte er mit der Info der weißen Klamotten erst am Abend des 31. heraus, nachdem er selbst sich in seine weiße Jeans und ein ebensolches Hemd gewandet hatte – die er beide sonst nie trug. Leider war es da zu spät, noch ein kleines Weißes für mich einzukaufen. „Schwarz geht auch“, sagte der Mann. Dass das eine Trost-Lüge war, merkte ich wenig später auf der Straße, auf dem Weg zu Bekannten, die uns eingeladen hatten. Niemand trug Schwarz. Niemand trug irgendwelche dunklen Farben. Nur ich.

Bei den Bekannten handelte es sich um ein trinkfreudiges Pärchen um die 45 mit zwei Kindern im Teenie-Alter. Sie wohnten in einem Haus in Klotzform mit Gittern vor den großen Terrassen und Balkonen. Die Dame des Hauses bat uns an einen niedrigen Tisch im ansonsten übersichtlich möblierten Wohnzimmer: ein Regal mit TV und Stereoanlage, ein anderes mit einer Sammlung alkoholischer Getränke. Es lief eine Silvestershow ohne Ton und eine Platte mit Brasil-Pop. Der Herr des Hauses bot mir entweder Whisky oder Cola-Zuckerrohrschnaps an, und da ich von Whisky Kopfschmerzen bekomme, wählte ich die zweite Möglichkeit.

Auf dem Tisch standen auch diverse Platten mit kaltem Truthahn, diversen Salaten, Früchten, Linsengerichten und anderem. Aber davon rührte niemand etwas an. Die Bekanntschaft war eher flüchtig, mein Portugiesisch eher dürftig, und mein Begleiter wie gesagt eher schweigsam. Also nippte ich an meinem Getränk und versuchte den Ausführungen der Dame des Hauses über Kindererziehung zu folgen. Besonders viele eigene Ideen zu dem Thema habe ich nicht eingebracht. Zum einen, weil ich keine Kinder habe, zum anderen, weil mein ohnehin karges Portugiesisch durch den Genuß mehrerer großzügig gemixter Longdrinks nicht gerade flüssiger wurde. Irgendwann rauschte die Stimme der Bekannten für mich nur noch als ein weiteres Hintergrundgeräusch neben der Musik und ich konzentrierte mich vor allem darauf, ein lautes Knurren meines Magens zu unterdrücken und nicht allzu begehrlich auf die Speisen zu starren. Warum zum Teufel bot mir hier niemand etwas zu essen an? Es ging langsam auf Mitternacht zu, ich war halb verhungert und mehr als halb betrunken. Waren die ganzen Leckerein nur zu Dekozwecken angerichtet und würden hinterher kollektiv in den Müll wandern?

Um kurz nach Mitternacht, als wir auch noch mit Sekt angestoßen und vom Dach aus einige wenige Leuchtraketen und ganz viele Böller bestaunt hatten schnitt der Hausherr endlich den Truthahn auf. Für mich war da alles schon zu spät, ich traute mich längst nicht mehr, in meinen mißhandelten Magen feste Nahrung zu verfügen. An alle Details der restlichen Nacht kann ich mich nicht mehr erinnern, nur daran, dass dieses Silvester erst in der schon heißen Sonne am nächsten Morgen endete, weil wir am Strand eingeschlafen sind. Irgendjemand hatte uns eine Flasche Rum in die Hand gedrückt mit den Worten: Nehmt, ich kann nicht mehr. Wir konnten auch nicht mehr, tranken trotzdem willenlos weiter und deswegen habe ich sogar darauf verzichtet, das neue Jahr mit dem ebenfalls traditionellen Bad im Meer zu beginnen. Bei jemandem, der Schwarz trug, kam es darauf vermutlich auch nicht mehr an.

Das ist ein paar Jahre her und inzwischen weiß ich, dass die Unterschiede zwischen brasilianischer und europäischer Kultur viel vielfältiger sind, als ich damals auch nur geahnt habe. Zum Beispiel: Während wir an Silvester gerne über die Zukunft orakeln, Blei gießen und Karten legen, versuchen die Brasilianer lieber, gleich positiv Einfluß auf die Zukunft zu nehmen. Dafür gibt es reichlich Möglichkeiten – von denen nicht mal das einladende Pärchen von damals alle kannte. Denn das Mitternachtsmahl, das weniger der materiellen Ernährung als der spirituellen Glücksbeschwörung just zum Zeitpunkt des Jahreswechsels dient, sollte nicht unbedingt Geflügel enthalten: Hühner, Truthähne und Co scharren nämlich rückwärts und können so Rezessionen verursachen. Empfehlenswerter sind Fische oder Schweine - die nach vorne schwimmen oder rüsseln. Linsen bringen Wohlstand, wer Trauben ißt und deren Kerne hinter sich wirft, darf sich etwas wünschen, Granatäpfel garantieren Geld und Glück, und das Bad im Meer reinigt von allem Dreck des vergangenen Jahres.

Diesmal stimmt bei mir wenigstens die Kleiderfarbe. Ob ich die anderen Glücksbringer alle auf die Reihe bekomme, weiß ich nicht. Ich werde weit weg von zuhause und meiner eigenen Glücksküche sein. Weil am Strand von Boa Viagem Marina Lima singt. Kostenlos. In Boa Viagem, dem Strandviertel von Recife, soll das Silvester ansonsten ganz besonders spießbürgerlich sein, mit geschmückten und bespaßten abgeschlossenen Feierabteilen für die Wohlhabenden und ambulanten Grillspießstationen für die weniger Wohlhabenden – getrennt durch Kordeln und Sicherheitsbeamte und vollkommen anders als die berühmte klassen- und religionsübergreifende Feier am Strand von Rio. Um eine Einladung in eine der schicken Feierzonen haben wir uns nicht gekümmert. Bleibt: Sekt mitnehmen, warm trinken, Snacks knuspern, Marina Lima hören und auf den garantiert gräßlichen Kater am Neujahrstag pfeifen. Wenn ich den überwunden habe, melde ich mich wieder. Bis dahin Prosit Neujahr!

Mittwoch, 26. Dezember 2007

Pfeif' doch woanders!

Die Deutschen haben wohl mehr Patente angemeldet, dafür haben die Brasilianer womöglich mehr Berufe erfunden. Erfindungsreichtum hat hier schon so manchen über Wasser gehalten. Von der in „Central do Brasil“ dokumentierten Briefeschreiberin über Stehgreif-Bänkelsänger (ok, die gab es auch schon im Mittelalter bei uns) bis zum Briefumschlagzukleber reichen die Professionen, mehr oder weniger legal und meistens an der Steuerbehörde vorbei – aber jede mit Sinn und Zweck und einem Einkommen zum Auskommen.

Hier im Dorf-Grossraum gibt es außerdem den Mann mit der Trillerpfeife. Der hat sich mit einer Minimal-Investition einen Lebensunterhalt geschaffen. Geschäftsgüter sind: eine Trillerpfeife und eine schwarze Weste mit gelber Aufschrift: Wachmann. Auftraggeber: Niemand. Der Mann mit der Trillerpfeife erfüllt einen Auftrag, den er selbst sich gegeben hat. Nacht für Nacht läuft er durch Gassen und Strassen, über Wege und Pfade, schaut nach Dieben und deckt dabei einen Radius von geschätzten drei bis vier Quadratkilometern ab. Damit seine Nachtaktivität nicht unbemerkt bleibt, bläst er ab und an heftig in seine Trillerpfeife. Wo es Hunde gibt – und das ist hier beinahe in jedem Haus der Fall -, fühlen die sich in ihrer Aufgabe als Wachhunde beleidigt und lassen dementsprechend ein wütendes Gebell los, wenn die Pfeife vorbei kommt. Letztens hat das Gebell eine gute halbe Stunde gedauert, bevor ich wieder einschlafen konnte.

Was das Trillern sonst noch bringt? Vielleicht treibt es Diebe in Flagranti zur Eile an, damit sie sich den Wachmann nicht zum Zeugen machen, den sie sonst womöglich vorsichtshalber wegpusten müssen. Dass so ein Trillern und ein einsamer Mann in der Nacht tatsächlich irgendeinen Einbrecher vom Einbrechen abhalten kann, ist wohl eher unwahrscheinlich. Ich bin nicht mal sicher, ob er wirklich jede Nacht unterwegs ist – meistens schlafe ich durch und höre sein Trillern gar nicht. Der Job mag einer der wenigen ohne Sinn und Zweck sein – lukrativ ist er trotzdem.

Jeden Sonntag – wenn die meisten Menschen zuhause gemütlich beim Grillen und Biertrinken beisammen sitzen – macht der selbsternannte Wachmann eine Zusatzrunde zum Geldeintreiben. Dabei klopft er sicher bei mehr als 100 Häusern an – wenn er in jedem einen Mindestspendenbetrag von nur einem Real einsackt, schafft er es auf mehr als einen Mindestlohn im Monat. Bei manchen scheint er allerdings eher Sachspenden in Form von Bier zu bekommen, denn wenn er hier auftaucht, ist er meist schon nicht mehr ganz sicher auf den Beinen.

Macht nichts, denn ich drücke ohnehin nur den Durchschnitt. Monatelang habe ich sein: „Ich bitte um einen kleinen Unkostenbeitrag für die Sicherheit“ mit den gleichen Worten abgeschmettert: „Die Hausbesitzerin wohnt oben!“ Letztens machte mich wütendes Hundegebell darauf aufmerksam, dass der motorisch etwas eingeschränkte Mann bis auf meine Terrasse getorkelt war, ohne dabei gleichzeitiges Artikulieren von Worten auf die Reihe zu bekommen. Besoffenen Überraschungsbesuch fanden weder die Hunde noch ich besonders schön. Während sie den Mann langsam aber sicher in den Rückwärtsgang zwangen, bellte ich ihm leicht genervt entgegen: „Ich pfeif’ auf deine Sicherheit! Ich schlafe lieber! Pfeif’ doch woanders!“

Dann fiel mir auf: Dafür würden womöglich viel mehr Leute gerne viel mehr zahlen - dass er woanders pfeift als vor ihrem Haus. Darauf muß er aber selbst kommen, das verrat ich ihm nicht.

Sonntag, 23. Dezember 2007

Helft den Notleidenden!

Nein, dies ist kein Spendenaufruf für das „Null-Hunger“-Programm. Armut bedeutet ja nicht ausschliesslich: nichts zu essen haben, und notleidend sind nicht nur Menschen.

Seit Donnerstag wissen wir, wer ganz besonders hilfebedürftig ist in diesem Land: das MASP, Kunstmuseum in Sao Paulo, das die größte und wichtigste Sammlung von ganz Lateinamerika beherbergt. Seit Donnerstag beherbergt es zwei Kunstwerke im Wert von zusammen rund 100 Millionen Reais weniger. Nach mehreren mißglückten Anläufen - einmal versuchten Räuber, die Sicherheitsbeamten zu überwältigen, ergriffen dann aber die Flucht, zuletzt im Oktober fanden Reinigungskräfte einen Brenner, der vermutlich bei einem weiteren mißglückten Einbruchversuch zurückgeblieben war – brauchten drei maskierte Männer am Donnerstag nur drei Minuten, um aus verschiedenen Sälen im zweiten Stock des Museums einen Picasso und einen Portinari zu entwenden.

Natürlich hat das MASP ein Sicherheitssystem – auch wenn Gitter vor den Fenstern aus Gründen des Denkmalschutzes nicht gestattet sind. Allein, das System ist ein eher prekäres. Und in den Sälen, in denen die Meisterwerke hingen, war zudem aus Gründen der Sparsamkeit das Licht ausgeschaltet. So blieben vom Raub des Picasso und des Portinari nur lückenhafte Filmsequenzen, in denen die Diebe als Schemen erscheinen. Bislang ist der Fall ungelöst. Die Polizei vermutete zunächst, es könne sich um eine Art Entführung handeln, doch Lösegeldforderungen blieben aus. Vermutlich legt sich einfach morgen ein wohlbetuchter Sammler zwei ganz besondere Weihnachtsgeschenke unter seinen Baum.

Mit einem Sammler hat das MASP auch einmal angefangen, vor mehr als 50 Jahren. Kunstförderer Assis Chateaubriand hat das Museum zusammen mit dem Kritiker Pietro Maria Bardi damals gegründet – mit mühsam gesammeltem Spendengeld haben sie die bedeutendste Sammlung des Kontinents zusammengetragen. Das MASP ist nämlich keine staatliche, sondern eine private Sammlung. Der seit vielen Jahren die Geldgeber fehlen. Deswegen wird es nach Weihnachten auch seine Türen wieder öffnen, ohne das Sicherheitssystem irgendwie verbessert zu haben.

Zum einen gibt es in Brasilien weder eine Tradition, noch eine neue Tendenz der großen Spender – wie etwa in Europa und den USA (man denke an Reemtsma, Gates und andere). Zum anderen interessiert sich kaum jemand für notleidende Kulturinstitute – frei nach Brecht: Erst kommt das Fressen.

Dafür ist in diesen Tagen allerdings gesorgt: Im Programm „Weihnachten für alle“ – werden jetzt ganz besonders viele Lebensmittel an die Armen verteilt. Sie müssen ja nicht unbedingt auch noch wissen, wer Picasso und Portinari sind. Oder?

* Candido Portinari ist einer der berühmtesten brasilianischen Maler der Moderne (er starb 1962), zu seinen Motiven gehörten soziale Themen wie die vor der Dürre fliehenden Landbewohner des Nordostens, er selbst kam aus einer einfachen Familie und besuchte nur die Grundschule.

Mittwoch, 19. Dezember 2007

Frohe Botschaften für den Adventskalender

Erinnert sich noch jemand an Adventskalender? Die mit den kleinen Türchen zum Aufmachen? Manche hatten dahinter nur bunte Bildchen zu bieten, andere immerhin Milchschokolade –die besten waren eindeutig die mit dem Säckchen für jeden Tag, mit Marzipankartoffeln, Lebkuchenherzen, Mandelplätzchen und anderen Leckereien. Hier bekommt man im Advent bestenfalls trockene Panettone geschenkt. Deswegen stecken in meinem brasilianischen Adventskalender statt Süßigkeiten frohe Botschaften: für jede Woche eine.

Die erste frohe Botschaft ist ganz offiziell und kommt von der UNO. Im diesjährigen Bericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen ist Brasilien zum ersten Mal unter der Gruppe der „entwickelten Länder“ aufgeführt – zwar auf einem der hintersten Plätze, aber immerhin. Die Vereinten Nationen messen die „menschliche Entwicklung“ anhand von Lebenserwartung, Schulbildung und Wohlstand. Die Erhöhung der Lebenserwartung von 70,8 auf 71,7 Jahre hat der Präsident nicht als persönlichen Erfolg verbucht. Der Wohlstand hat sich dank Lula mindestens für die mehr als 11 Millionen Familien verbessert, die staatliche Sozialhilfe in Form der „Bolsa Familia“ beziehen – auch wenn das für manche weniger als 10 Euro im Monat sind. Die Schulpflicht erfüllen seit Lula auch mehr Kinder als vorher – nicht zuletzt, weil die Bolsa Familia nur ausgezahlt wird, wenn alle Kinder regelmäßig zur Schule gehen. Zusammengefaßt ließe sich also sagen, dass die Bolsa Familia Brasilien zu einem menschlich entwickelten Land gemacht hat.

Die zweite frohe Botschaft ist ebenfalls offiziell und lautet, dass alle brasilianischen Haushalte an das öffentliche Abwassernetz angeschlossen werden sollen. Bislang sind das nämlich nur knapp über die Hälfte – die anderen nutzen hausgemachte Sickergruben oder Improvisationslösungen. Das Programm zur flächendeckenden Abwassernetz-Einführung gehört nicht zu den dringendsten Prioritäten der Regierung (so wie etwa die Bekämpfung des Hungers). Gehen die Arbeiten im Abwasserbereich im bisherigen Tempo weiter, werden im Jahr 2122 alle Brasilianer angeschlossen sein. Die menschliche Entwicklung soll das aber nicht stören.

Die dritte frohe Botschaft sind eigentlich zwei - aus verschiedenen Bundesstaaten, die in letzter Zeit Schmach und Scham erleiden mußten. Im Pará blieb die Minderjährige L. wochenlang in einer Zelle mit 30 Männern eingesperrt – als der Fall bekannt wurde, gab das häßliche Schlagzeilen und Schelte für die Gouverneurin. Es gebe kein Frauengefängnis vor Ort, hieß die offizielle Erklärung. So etwas wird nicht mehr vorkommen. Nicht in dem Gefängnis von Abaetetuba jedenfalls. Denn das wird abgerissen. Frei nach dem Motto: Aus den Augen aus dem Sinn. Das Motto scheint auch den Regierenden von Bahia zu gefallen. Dort ist kürzlich – just nachdem Brasilien als Austragungsland der WM 2014 bestätigt wurde – eine Tribüne des vollbesetzten Stadions Fonte Nova bei einem Endspiel eingestürzt: sieben Tote, dreißig Verletzte. Passiert ist passiert, also nicht lange nach Schuldigen suchen, sondern: Weg damit! Auch das Stadion Fonte Nova soll abgerissen werden. Schnell, konsequent effizient.

"Weg damit“ ist selbst ein schönes Motto und könnte glatt über der vierten und schönsten frohen Botschaft stehen. Die kommt aus dem Senat und lautet: Die CPMF wird nicht verlängert. Die seit beinahe 15 Jahren immer wieder verlängerte „vorläufige“ Steuer auf den Geldverkehr hat seitdem wiederholt für Streit, Intrigen und Polarisierung gesorgt: Das Volk wollte sie nicht mehr zahlen, die Politiker wollten nicht ohne die genehmen Zusatzeinnahmen leben. Angeblich hat sogar der vielfach krimineller Taten beschuldigte Senatspräsident sich nur deswegen so lange im Amt halten können, weil er versprochen hatte. Stimmen für eine weitere Verlängerung der Lieblingssteuer der Regierung zu besorgen. Hat alles nicht geklappt Leute. Keine CPMF in 2008. 40 Milliarden Reais weniger in der Staatskasse. Das heißt: 40 Milliarden Reais mehr in unseren Kassen – solange keinem Schlaumeier einfällt, eine andere Steuer zu erfinden. Dafür lassen sich Unmengen Marzipankartoffeln, Lebkuchenherzen und Plätzchen kaufen! Besser als jeder Adventskalender. Sogar besser als der mit den Säckchen.

Freitag, 14. Dezember 2007

Brutale Gewalt gegen selige Sängerinnen

Die Gläubigen hier sind eine Plage. Jeder kann glauben, was er will, keine Frage. Und dass hier im armen Nordosten Glauben besonders Not tut, ist leicht verständlich. Warum aber können die Priester der diversen religiös inspirierten Gemeinschaften von den Pfingstkirchen bis zu den Zeugen Jehovas sich nicht in einem geschlossenen Raum treffen, wie andere Religionsgemeinschaften auch? Oder ihren Open-Air-Gottesdienst wenigstens in menschenverlassenen Gegenden abhalten?

Tatsache ist, dass jedes noch so kleine Dorf zwar deutlich mehr Kirchengebäude als Schulen besitzt (letztens schallte mir lautstarkes „Hallelujah!“ sogar aus einer palmwedelgedeckten Lehmhütte mitten im Wald entgegen – die Hütte war eine Baptistenkirche), die Schafe Gottes sich aber trotzdem gerne irgendwo auf dem Bürgersteig zusammenfinden, um ausgiebig und zu bester Sendezeit zu loben und zu preisen und zu schimpfen. Üblicherweise bewaffnet sich der Priester mit einem Megafon und schmettert seine Überzeugungen jedem ungefragt ins Wohn- oder Schlafzimmer, der im Umkreis von 200 Metern wohnt. Dabei wird hart umgesprungen mit allen, die ihr Leben nicht augenblicklich unserem Herrn Jesus Christus überantworten, und jede Aussage bekräftigt durch ein gebrülltes Glória Deus.

Der andere Teil der wenig besinnlichen Andacht ist womöglich noch schlimmer. Er besteht aus Gesang. Der Herr ist offensichtlich deutlich großmütiger als ich: Er stört sich nicht daran, dass die berufenen Sänger jeden Ton umso lauter in die Nacht schreien, je weniger sie ihn treffen.
Vielleicht sind die Gläubigen ja auch alle ein wenig taub. Oder sie brauchen reichlich Lautstärke zur Befestigung ihrer noch wackeligen Überzeugungen.

Letztens zogen zwei religiöse Damen in die Nebenwohnung ein. Das erfuhr ich um halb sechs Uhr morgens, als in Partylautstärke eine christliche Wecksendung die Töpfe in meiner Küche zum Singen und mich in meinem Bett zum Kochen brachte. Wenig später wechselte das Programm von Erwachet! auf ein Kinder-ABC-Lied. Bis zum fünften „Piu-Piu-Piu“-Refrain hielt ich still. Dann malte ich mir mein weiteres Leben mit diesen Nachbarinnen aus und ging zu meiner Vermieterin, um ihr vorsichtig zu erklären, dass ich am Schreibtisch mein Geld (und ihre Miete) verdiene, was bei Piu-Piu-Beschallung ab halb sechs Uhr morgens eindeutig gefährdet sei. Fátima ist eine freundliche und verständnisvolle Person. Sie erklärte den Neu-Mieterinnen höflich und bestimmt die Lage, und fünf Minuten später war Ruhe. Zwei Minuten lang. Dann hub eine der Religiösen an, im Vorgarten Wäsche zu waschen und dabei zu singen. Ganz in der Tradition der schallend schiefen Töne und kein bißchen leiser als vorher das Radio gedröhnt hatte. Ich gebe zu, dass ich in den nächsten Minuten an allerlei Unchristliches dachte, von Ich-brauche-dringend-eine-Stinkbombe über Woher-bekomme-ich-eine-CD-von-Black-Sabbath bis zu Wenn-das-so-weitergeht-werde-ich-zur-Amokläuferin.

So weit kam es Gott-sei-Dank nicht. Kurz bevor ich der seligen Sängerin ins Gesicht sprang, erhob sich eine Männer-Stimme aus dem Nachbarhaus. „Schluss!“ donnerte die Stimme. „Und zwar sofort! Wenn diese Verrückte noch eine Minute länger die Welt mit ihrem Gejaule stört, komm ich rüber und regele die Sache!“ Augenblicklich trat Stille ein. Wenig später hörte ich die Damen sich bei Fátima beschweren. Noch ein wenig später trugen sie ihre Siebensachen an meinem Fenster vorbei – sie zogen wieder aus.

Nicht dass ich es befürworte, wenn Männer brutal ihre Stimme erheben, um gegen Frauen vorzugehen. Grundsätzlich bin vollkommen gegen ein solches Verhalten. In diesem Fall war ich allerdings geradezu dankbar für die Brutalität. Eine echte Plage läßt sich eben nicht durch höfliche Bitten vertreiben.

Samstag, 8. Dezember 2007

Jo Soares und die dummen Zossen

Man muß Jô Soares nicht mögen. Er läßt die Leute oft nicht zu Wort kommen vor lauter Selbstverliebtheit, ist übergewichtig bis weit über die Grenzen des guten Geschmacks, und hat schon so oft seine Show gemacht, dass er Vorbereitung auf seine Late-Night-Interviews vermutlich für Schwachsinn hält. Erst recht, wenn er dumme Zossen einlädt.

Aber es geht hier erst mal nicht um die Vorurteile des brasilianischen Möchtegern-Letterman. Wer sich dumm nennt, sind nämlich in diesem Fall die Frauen selbst. Angekündigt als die Vertreterinnen des Sites www.muleburra.com* betreten vier attraktive Frauen um die 30 die Szene. Eine der Burras ist immerhin blond, wozu Jô gerade noch ein schwächeren Blondinnenwitz einfällt. Wenig später schneidet er seinen Besucherinnen endgültig das Wort ab. Vielleicht sind sie ihm nicht dumm genug.

Immerhin hat er ihren Site genannt. Den gibt es seit 2004 – besucht haben ihn seitdem mehr als eine halbe Millionen Eselinnen und andere. Genau darum geht es den erklärten Dummerchen, als sie ihr Forum geschaffen haben: Den anderen Frauen zu zeigen, wie sehr wir alle Eselinnen sind. Ihr Motto ist der Machospruch: „Frauen sind dumm“. Nicht so dumm allerdings, wie Jô vielleicht erwartet hatte. Sondern dämlich, weil wir Frauen sind.

Muléburra.com zeigt, dass wir damit nicht allein sind. Quasi als Trost. Weil wir nicht ganz so dämlich sind, wie die 82jährige Argentinierin, die im Oktober einen 24jährigen heiratetet. Aus Liebe. Dafür wird sie bei Muléburra zur Eselin des Monats gekürt. (Der 24jährige ist übrigens inzwischen verwitwet und schreibt den Medien die Schuld für das plötzliche Ableben seiner Frau zu – sie hatten das Paar selbst in den Flitterwochen in Rio nicht in Ruhe gelassen) Oder weil wir irgendwann alle schon mal genauso dämlich waren, wie Bucéfala - eine der vier Macherinnen – die sich als Teenie von einem Angeber zu großer und bald nur noch schmerzlich enttäuschter Liebe beschwatzen ließ. Eselin eben.

Darin unterscheiden sich offensichtlich Brasilianerinnen im Nordosten nicht von denen in Sao Paulo oder von ihren europäischen Esels-Kolleginnen: Unter dem Titel Liebe begehen sie die größten Absurditäten – wie die regen Kommentare zu den Beiträgen des Sites zeigen. Nur: Bucéfala, Idiotilde, Jujumenta und Antania stehen zu dem, was sie ihre Dämlichkeit nennen. Und lachen darüber.

Da hätte der große Jô glatt noch was lernen können, von den dummen Zossen.

* Frau heißt auf Portugiesisch „Mulher“ – im schwach schulgebildeten Volksmund auch „mulé“ - und schwach schulgebildete Männermünder sind hier keine Seltenheit. Burra heißt dumm, aber auch Eselin.

Montag, 3. Dezember 2007

Lidiane, das rechtlose Luder

Haben Frauen Rechte? Sind Luder Frauen? Können Justizangestellte im Staatsdienst machen, was sie wollen, solange keiner zusieht?

Manche haben die Geschichte auf die Tränendrüsenschiene erzählt. Das Bild der Fünfzehnjährigen von eineinhalb Metern Größe und 35 Kilo Gewicht beschworen, deren Kinderkörper wiederholt brutal vergewaltigt wird. Andere haben die Kleine als Luder hingestellt. Eine Fünfzehnjährige, die schon seit Jahren auf den Strassen der Kleinstadt herumlungert, sich prostituiert und Drogen nimmt – stadtweit bekannt und überhaupt keine 15 sondern schon 20 Jahre alt. Wieder andere haben sich auf ihre Herkunft konzentriert: Eltern getrennt, Vater Kleinbauer, Mutter Hausfrau, die Tochter muß bei einem Onkel unterkommen, um eine weiterführende Schule besuchen zu können

Stimmt fast alles. Die 15jährige Lidiane ist zwar noch keine 20, aber sie ist kein braves Mächen und längst keine Jungfrau mehr. Sie treibt sich herum, anstatt in die Schule zu gehen und ist mit 15 nicht über die fünfte Klasse hinausgekommen. Alles richtig. Und offensichtlich Grund genug für die Beteiligten, Lidiane als rechtloses Luder anzusehen. Beteiligte, die Lidiane festnahmen, weil sie angeblich ein Handy gestohlen hatte. Obwohl sie bei ihr weder ein Handy fanden, noch jemand den Diebstahl eines solchen gemeldet hatte. Beteiligte, die Lidiane ins Gefängnis brachten, obwohl sie betonte, sie sei minderjährig. Und obwohl jeder der Beteiligten wusste, das es in Abaetetuba kein Frauengefängnis gibt

Das Ergebnis: Lidiane, 1,50 Meter, 35 Kilo, Gelegenheitsprostituierte, landete in einer Gemeinschaftszelle mit 30 Männern. Das fand wohl niemand weiter schlimm. Den Antrag auf ihre Verlegung in die Bundeshauptstadt – wo es ein Frauengefängnis gibt – stellte die Gefängnisleitung von Abaetetube jedenfalls erst zwei Wochen später, am 5. November.

Wer meint, dies sei das Werk gefühlloser Machos, irrt. Es waren Frauen, die Lidiane verhaftet und eingesperrt haben: Eine Polizistin und eine Richterin, die das Mädchen nach einer Befragung sogar wieder zurück schickte, in die gleiche Zelle.

Allerdings ist diese Zelle nicht nur von den Wächtern, sondern auch von der Strasse aus einzusehen. So kam es, dass Passanten und Anwohner zugucken konnten, wie die Männer Lidiane zum Sex zwangen. Es war für 30 erwachsene Männer nicht weiter schwierig, dem Mächen das Essen vorzuenthalten, wenn sie nicht mitmachte. Trotzdem schrie und wehrte sich das Luder. Bat Passanten um Essen und um Hilfe.Und mußte schließlich doch mit sich machen lassen. Weil die Männer ihr Zigaretten auf den Armen ausdrückten, Papierschnipsel zwischen den Zehen verbrannten, mit Schlimmerem drohten.

Der Onkel scheint sie in dieser Zeit nicht vermißt zu haben. Der Richterin scheint es nichts ausgemacht zu haben, was passierte. Die Polizistin scheint kein schlechtes Gewissen bekommen zu haben. Und die Angestellten des Gefängnisses scheinen kein Interesse oder keine Macht gehabt zu haben, etwas zu ändern. Drei Wochen dauerte es, bis die Passanten an dem Schauspiel satt gesehen hatten: Irgend jemand erstattete anonym Anzeige bei der Staatsanwaltschaft und beim Jugendschutz.

Lidiane wurde freigelassen. Und die Presse fing an, Fragen zu stellen. Ana Júlia Carepa, seit elf Monaten Gouverneurin des Pará, erklärte die Vorkommnisse zunächst damit, dass es ganz normal sei in den Gefängnissen ihres Bundesstaates, Frauen und Männer zusammen zu legen. Dann fiel ihr verspätet auf, wie wenig elegant das klang, und sie schob eine Presseerklärung nach: Sie lehne jede Form der Gewalt ab und konnte nur deswegen die Praxis der gemischten Zellen nicht abschaffen, weil der Pará so gross sei. Hat sie nicht daran gedacht, dass der Rückschluß lautet, an den Zuständen wird sich auch künftig nichts ändern, weil der Pará ja auch in Zukunft nicht kleiner wird?

Inzwischen wurde die Polizistin vom Dienst suspendiert, die Lidiane eingesperrt hatte. Wie ihre Bestrafung aussehen wird, weiß noch niemand. Das Mädchen und ihr Vater mussten derweil anonym in einen anderen Bundesstaat gebracht werden, weil Polizisten den Kleinbauern so massiv bedroht hatten, daß er um sein Leben fürchtete. Nach vierzig Tagen wird geprüft, ob eine Rückkehr in ihre Heimat möglich ist. Was dann aus Lidiane wird? Zurück zum Onkel, auf die Strasse?

Lidiane hat es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Vielleicht bringt ihr das eine Sonderbehandlung sogar nach ihrer Rückkehr. Aber Lidiane ist nicht allein. Ähnliche Fälle, so die Staatssekretärin für Öffentliche Sicherheit, kommen sogar im Süden des Landes vor, wo die Gefängnisse deutlich besser ausgestattet sind. Die werden sicher nicht alle Schlagzeilen machen.
 
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