Donnerstag, 28. Dezember 2006

Maresia - die rätselhafte Kraft der Zerstörung

Am Meer wohnen ist wunderbar. Abends mit den Wellen einschlafen, morgens mit den Wellen aufwachen, tagsüber mit Blick auf die Wellen arbeiten. Ein Traum. Wenn die Maresia nicht wäre.

Zuerst hat sie mein Handy erwischt. Neu in Deutschland gekauft und direkt importiert. Nach zwei Wochen Maresia ist das Display plötzlich erloschen. Dann folgte die Mikro-Anlage. Ebenfalls neu. Spielt MP3 und CDs und überhaupt alles ab und klingt für ihre lächerliche Größe gar nicht schlecht. Klang nicht schlecht, muss ich wohl besser sagen. Nach drei Wochen Maresia spielt sie nämlich nur noch ein bis drei Stücke und hört dann einfach auf. Das Diktiergerät hat im Vergleich ziemlich lange überlebt. Ich hatte es mehrere Monate nicht benutzt, und als ich es kürzlich aus dem Schrank holte, war es gelbgefleckt und tot: Die Batterien sind ausgelaufen.

„Ganz klar, das ist die Maresia!“, urteilt mein Nachbar. „Die funktioniert hier direkt am Meer besonders schnell und schmerzhaft.“ Der Mann muß es wissen, denn bei ihm ist das mit der Maresia noch viel schlimmer. Ricardo ist Grafiker, und zurzeit schaltet er jeden Morgen mit Herzklopfen seinen PC an. Manchmal bootet der dann, manchmal aber auch nicht: Wenn die Maresia sich mal wieder an irgendwelchen Kontakten zu schaffen gemacht hat. Der PC ist neu. Den alten hatte die Maresia schon komplett geschafft.

So hübsch ihr Name Maresia klingt, so lebensgefährlich sind die Attacken der salzigen Meeresbrise, vor allem auf Maschinen. Ich lerne gierig alle Tricks, wie ich mich gegen sie wehren kann. Ricardo etwa hüllt seine neue Digitalkamera in Frischhaltefolie, bevor er Surffotos macht – nachdem die Maresia den Motor der alten gefressen hatte. Er hat kleine Säckchen aus Stoff genäht, die er mit Silicagel füllt und in TV, PC, Drucker, Scanner und andere Geräte stopft – in der Hoffnung, daß sie dadurch trocken und heil bleiben. Ich schalte außerdem meinen Fernseher mehrmals täglich an – unabhängig davon, ob ich eine Sendung sehen will: die Hitze des Stromkreislaufs hält die Kontakte trocken – hoffe ich. Ich wachse meinen Kühlschrank und meinen Herd – seit ich bemerkt habe, wie die neuen Geräte schon nach wenigen Monaten Rost ansetzen. Ich öle mein Fahrrad komplett ein, entferne Batterien aus Geräten, die nicht ständig in Betrieb sind, packe den Laptop jedesmal weg, wenn ich ihn nicht benutze, und das Handy in eine Plastiktüte, wenn ich an den Strand gehe. Und hoffe jeden Abend, daß meine Arbeitsgeräte morgen noch funktionieren.

„Ideal wäre so eine Art Aquarium“, meinte Ricardo heute. „Ein kleiner Glaskubus, in dem man einen Luftentfeuchter an- und sich selbst mit allen Arbeitsgeräten einschließt: Da soll sie mal versuchen, reinzukommen, die Maresia.“ Ricardo kam vorbei, weil sein neues Handy plötzlich erloschen war. Er wollte wissen, ob ich übergangsweise ein Ersatzgerät für ihn hätte. „Nur eins, bei dem das Display erloschen ist“, sagte ich. „Macht nichts“, meinte er. Also nahm ich das alte Maresia-Opfer aus dem Schrank und schaltete es probeweise an. Das Display leuchtete, als sei das nie anders gewesen. Versteh’ einer die Maresia!

Montag, 25. Dezember 2006

Chaos am Fest der Liebe

Irgendwann tat die Sekretärin Miriam, was in diesem Moment vermutlich viele gern getan hätten: Sie nahm den Computer der Fluggesellschaft TAM und warf ihn auf den Boden. Miriam wollte eigentlich keine Computer werfen, sie wollte nach Hause und Weihnachten feiern. Auch in Brasilien ist Weihnachten ein Fest, das traditionell in der Familie gefeiert wird. Deswegen sind Flüge und Überlandbusse im ganzen Land oft schon Wochen im voraus ausgebucht. Das kennt man, darauf stellt man sich ein, und die Brasilianer sind normalerweise fröhliche und gelassene Schlangesteher. Aber in diesem Jahr war alles ein bißchen anders.

Am 23. Dezember starteten mehr als die Hälfte aller Flüge mit mehr als einer Stunde Verspätung, manche wurden ganz gestrichen, manche um halbe Tage verschoben. Am internationalen Flughafen von Sao Paulo reichte die Kilometerlange Schlange der Wartenden bis auf die Strasse vor dem Flughafengebäude. Als in Rio de Janeiro den ersten die Nerven durchgingen, kam die Polizei, um gröbere Raufereien zu verhindern. Auch Miriam, die Computerwerferin, wurde vorübergehend festgenommen. Dabei hatte sie zwölf Stunden gewartet, ohne zu klagen: Ihr Flug in den Nordosten hätte schon am Vorabend um 23 Uhr starten sollen. Er wurde erst auf 3 Uhr morgens und dann auf 7 Uhr verschoben. Miriam wartete mit Hunderten anderer Passagiere, die die Nacht auf dem Fußboden der Abfertigungshalle verbrachten. Miriam war lange gefaßt. Erst als sie nach all den Stunden feststellen musste, daß ihr Flug soeben ohne sie gestartet war – da flog der Computer. Die Konsequenz: Miriam stellt „eine Gefahr für die anderen Passagiere dar“, und die TAM muß sie nun gar nicht mehr transportieren.

Angefangen hat das ganze Flugchaos mit dem Unfall der GOL-Maschine im September. In der Folge durften die hoffnungslos überlasteten Fluglotsen nur noch die gesetzlich zugelassene Menge Maschinen überwachen – und es gab die ersten Engpässe und Verspätungen. Flutartige Regengüsse in Sao Paulo, Wartungsarbeiten an mehreren Maschinen und reichlich Überbuchung bei der größten brasilianischen Fluggesellschaft TAM reichten im Vorweihnachtsrummel aus, um das Land vollends ins Chaos zu führen. Der TAM wurde zwischenzeitlich weiterer Ticketverkauf untersagt. Und Präsident Lula stellte acht Maschinen der Luftwaffe zur Aushilfe im Personenverkehr bereit, um zu retten, was noch zu retten war.

Die Rettung kam für viele spät: Sie verbrachten den Heiligabend im Flughafengebäude. Für Streits hatten die meisten keine Kraft mehr. Wer heute morgen gegen drei Uhr immer noch in den langsam kürzer werdenden Schlangen stand, wirkte nur noch apathisch, heißt es in den Meldungen der Medien. Um fünf Uhr morgens war es endlich geschafft: Der Flughafen von Sao Paulo war leer, und auch aus den anderen Grosstädten wurden keine Schlangen mehr gemeldet. Inzwischen sind vielleicht endlich alle irgendwo angekommen. Ob auch Miriam, die Computerwerferin nach Hause gekommen ist, hat leider niemand berichtet. Dabei heißt die Heimatstadt der verzweifelten Sekretärin ausgerechnet „Natal“ – zu Deutsch: „Weihnachten“.

Donnerstag, 21. Dezember 2006

Das fluchende Aschenputtel

Das Aschenputtel heißt Tati und hat es geschafft: Letzte Woche war sie der Wochenzeitschrift Veja eine Doppelseite wert – und vielleicht ist das noch nicht mal das Ende des Märchens.

Es beginnt vor ein paar Jahren, als Tatiana Santos Lourenco noch in einer Kinderkrippe in der Favela Cidade de Deus kocht, 92 Kilo wiegt, und außer ein paar guten Partys nicht viel vom Leben erwartet. Eines Nachts steigt sie auf eine wackelige Bühne in einer der düsteren Buden voller Partywilliger ohne Geld, in denen in Rios Slums „Baile funk“ gefeiert wird. Damals kommen noch keine Muttersöhnchen zu den Bailes. Damals finden nur die anderen Mädels aus der Favela ziemlich gut, was die Dicke da auf der Bühne macht. Tati tut so, als gelte für sie kein Modediktat. Sie quetscht sich in die schlauchartigen Lycrajeans der angesagten Marke „Gang“, läßt den Bauch über den Bund schlabbern und dröhnt los. „Ich bin häßlich, aber ich bin in Mode“ heißt der Titel ihres erster Hits.

Bald schwappt der Funk Carioca auf die andere Seite der Welt: Die Musikgattung mit den simplen Melodien und den peitschenden Rhythmen, mit den einfältigen und eindeutigen Texten und den vulgären Choreografien gefällt den Wohlstandskindern überall. In Brasilien fehlt inzwischen auf keiner Party, in keiner Clubnacht der Funk, es gibt TV-Sendungen darüber, Miss-Funkeira-Wahlen und Fansites. Und in den Clubs in London, Paris, Barcelona und Berlin versuchen die europäischen Kids, ihre Hüften ebenso provokant kreisen zu lassen, wie die Brasilianerinnen.

Tati wird zum Star. Kein Wunder. Wir wollen auch so sein wie Tati. So ungeniert. So frech. So rotzig.

Die Frau schämt sich für nix. Erzählt freiwillig in der Reportage der Veja, daß sie sich nicht mehr an die Zahl ihrer Lover erinnern kann. Dass sie inzwischen mehr als 900 Gang-Jeans und 200 Paar Turnschuhe besitzt – danach hat sie aufgehört zu zählen. Dass sie mindestens 20 Schönheitsoperationen hinter sich hat und damit noch lange nicht Schluß ist. Von den 92 Kilo sind nur noch 57 übrig. „Alles abgesaugt“, sagt Tati stolz: „Allein am Rücken waren das neun Liter. Ich mach keine Diät, ich esse alles und viel davon!“

Tati ist jetzt 27 und hat sich von 300 Reais Mindestlohn vor ein paar Jahren auf bis zu 250.000 Reais im Monat verbessert. Das hat bisher für 15 Mietwohnungen in der Cidade de Deus, für ein Haus in Rio und eine Wohnung in Sao Paulo gereicht. „Sie ist bescheiden geblieben“, behauptet die offizielle Website. Tatsache ist: Tati wohnt immer noch in der Cidade de Deus und kennt die Kumpels von früher. Sie ist kaufsüchtig, zahlt ihrer Mutter 100 Reais am Tag dafür, daß die ihre Wohnung putzt, aber sie verschenkt nix und spendet nix. Sie mag keine Schecks, weil „die nur Illusion sind“, und läßt niemanden ihr Geld verwalten, weil „ich ja morgen wieder arm sein könnte".

Tati ist nicht bescheiden. Sie ist laut und provokant und vulgär wie vorher - nur eben mit viel mehr Geld. Ihr Künstlername „Quebra-Barraco“ heißt übersetzt: „die die Hütte zusammen schlägt“. Genau deswegen lieben wir sie: weil sie um sich schlägt, wenn ihr was nicht paßt, Egal wo. Letztens hat sie einem TV-Ansager, der seine kümmerliche Show mit ihrer Präsenz bis zum Schluss aufwerten wollte, ins Gesicht gesagt: „Ich hab jetzt in deiner verfickten Show gesungen und das wars, ich bleib hier verdammt nicht mehr, ich hau jetzt ab.“ Und weg war sie.

Tati pfeift auf PR, sie ist wie sie ist. Das ist ihre beste PR. Das ist das Märchen. Und das wünschen wir uns auch: Nicht wie das Original-Aschenputtel in der Ecke am Herd warten, bis der Prinz uns rettet. Sondern fluchen, wenn uns danach ist und überhaupt einfach sein, wie wir sind - und genau damit ganz groß rauskommen.

Inzwischen erwartet Tati eine Menge vom Leben. Ihre nächsten Pläne: Silikonimplantate in den Allerwertesten pflanzen, einen Jeep Marke Hilux kaufen, ein Restaurant-Club aufmachen, für Aktfotos Modell stehen...

* ein Real entspricht zurzeit etwa 0,35 Euro

Samstag, 16. Dezember 2006

Bei Galego: Kokoswasser und Politik

Galego lebt in einer kleinen Box: an drei Seiten geschlossen, zur Strasse hin offen, und vollgestopft mit allem, was der Mensch so braucht. Laut Ladenschild gibt es bei Galego „Frutas e Verduras“, Obst und Gemüse. Unter anderem kaufen tatsächlich bei Galego Hausfrauen das tägliche Obst und Gemüse ein. Obwohl gleich neben der Kasse eine großes Schild verkündet: „Auf Pump geht gar nichts“, dürfen die Stammkunden natürlich bis zu einer bestimmten Summe anschreiben lassen.

Außerdem ist Galegos Laden ein Öko-Imbiss: Wenn die Surfer hungrig und durstig vom Strand kommen, machen sie gerne bei Galego Pause auf ein frisches Kokoswasser gleich aus der Nuß und ein paar Scheiben Wassermelone oder eine Handvoll Weintrauben. Für Kinder ist Galego das Büdchen: In einem guten Dutzend Plastikdosen bewahrt er Erdnussbutterplätzchen, Erdnußkrokant, Lakritze, Kaugummi und andere Delikatessen auf. Und schliesslich gibt es bei Galego auch Schreibhefte, Quittungsblocks, Zahnbürsten, Shampoo, Nähnadeln, Besen, Staubtücher, Kugelschreiber und Haargummis. Und Zeitungen und einen Fernseher neben der Kasse, damit Galego nicht langweilig wird, wenn gerade keine Kunden da sind.

Galego macht morgens in aller Herrgottsfrühe auf und abends erst zu, nachdem er die Abendnachrichten angesehen hat. Spätestens dann sind seine Ansichten zum aktuellen Polit-Geschehen gereift und er diskutiert die kommentierte Kurzfassung der Tagesschlagzeilen gerne mit seinen Kunden. Gestern lautete die Schlagzeile in beiden konkurrierenden Tagszeitungen, die bei Galego aushängen: Gehaltserhöhung Senatoren 92 Prozent, Gehaltserhöhung Arbeiter 7 Prozent. Das ist wirklich wahr. Die Senatoren haben sich in einem Akt größter Einigkeit untereinander selbst eine Diätenerhöhung von bislang monatlichen 12.800 Reais (rund 4570 Euro) auf neuerdings 24.600 Reais (8780 Euro) im Monat bewilligt.* Angeblich haben sie sich dabei an Minister-Gehältern orientiert. Nun gibt es allerdings etwas mehr Senatoren als Minister im Land, und so kostet die neue Gehaltsklasse den Steuerzahler jeden Monat mehr als 100 Millionen Reais. Das sind keine Extrakosten, behaupten die Politiker, wird alles an anderer Stelle eingespart. Für normale Arbeiter kann leider niemand so leicht eine ähnlich saftige Gehaltserhöhung einsparen.

Galego regt sich auf: „Die brasilianischen Wähler sind wirklich ein Haufen Idioten." Ein Kunde fragt: "Wieso die Wähler?" Galego: "Na, wie können die nur solche Senatoren wählen, die ohnehin schon Hilfe für alles bekommen; Beihilfe zur Miete, Beihilfe zu Krawatte und Anzug, Beihilfe zum Nahverkehr – und dann kriegen die den Hals immer noch nicht voll!“ Ein verspäteter Surfer stimmt zu: “Ich verdiene 24.000 nicht mal im Jahr, und ich arbeite auf dem Bau schwerer als jeder Senator!“ Ein anderer Kunde findet: „Da weiß man wirklich nicht mehr, warum man überhaupt noch arbeiten geht.“ Galego wiegt ein paar Äpfel ab, packt ein paar Rollen Garn ein, hält inne, überlegt ein bisschen und sagt dann: „Deswegen geht es mit diesem Land nicht vorwärts: die einen schwitzen immer mehr, um das Allernötigste bezahlen zu können, die anderen genehmigen sich Fürstengehälter, dafür, daß sie gelegentlich mal ein Dokument unterzeichnen. Und wißt Ihr, was ich jetzt mache? Ich arbeite eh schon viel zu lang heute, ich geh jetzt auch nach Hause!“

* Der gesetzliche Mindestlohn soll von 350 Reais (125 Euro) auf 370 Reais (132 Euro) angehoben werden.

Dienstag, 12. Dezember 2006

38 Grad sind zu viel für den Weihnachtsmann

Natürlich gibt es hier Weihnachtsmänner. Auch wenn Weihnachten so gar keine tropische Tradition ist. Es gibt sogar Weihnachtsverkäuferinnen, Weihnachtskassiererinnen, Weihnachtsparkwächter und Weihnachtsköche. Will sagen: Die brasilianischen Unternehmer lieben das Weihnachtsfest und seine Symbole so, daß sich spätestens vier Wochen vor dem Fest alles eine rote Weihnachtsmütze mit weißem Bommel überstülpen muss, was irgendwie Publikumsverkehr hat. Was ich noch nicht gesehen habe, sind Geschäftsführer oder Banker mit roten Mützen. Hübsch wären auch mal Weihnachtspolizisten. Vielleicht ist deren Job zu ernst für die Mütze.

Vielleicht hat aber auch nur das Budget der Stadtverwaltung nicht gereicht und sie bekommen ihre Mützen im nächsten Jahr. Die Geldknappheit in den Stadtkassen ist leicht erklärt: Die Stadtverwaltung erläßt den Einkäufern gerade in diesen Wochen, in denen die Läden sogar sonntags öffnen und der ganze Nordosten in Recife sein letztes Geld auszugeben scheint, sämtliche Parkgebühren. Überall, wo Parken am Strassenrand erlaubt ist, parkt man im Dezember umsonst. Das muß man sich mal in München, Berlin oder Düsseldorf vorstellen. Ein Millionengeschäft lassen die sich hier entgehen. Weihnachtsbegeisterte eben.

Aus Begeisterung hängen jetzt außerdem alle Hausbesitzer Lichterketten auf: die günstigsten gibt es für knapp einen Euro, da reicht das Geld bei den meisten Familien sogar für zwei oder drei der schmückenden Accessoires. Besonders beliebt sind solche, die in mehreren Farben blinken, wie früher auf Schulparties – und noch besser kommen die an, die zusätzlich einen internationalen Weihnachtshit à la „Jingle bells“ musizieren. Praktischerweise wird es in den Tropen schon um sechs Uhr abends dunkel, da können die trötenden Lichterketten und ihre Besitzer sich besonders ausgiebig selbst verwirklichen. Manchmal wetteifert eine ganze Strasse um die hellsten, buntesten und lautesten Ketten, und manchmal singen die Dinger sogar im Kanon. Dass niemand Probleme hat, bei der visuellen und akustischen Berieselung zu schlafen, muß ich wohl nicht extra erklären.

Vermutlich bin ich die einzige im Großraum Recife, der es trotzdem nicht recht gelingen will, eine Weihnachtsstimmung zu entwickeln. Trotz Weihnachtsmützen, Weihnachtslichterketten und Weihnachtsbäumen voller Flitter und Kugeln. Bei Kiefern und Tannen handelt es sich normalerweise um liebevolle, nahezu naturidentische Nachbildungen aus Plastik. Im Vorgarten werden aus Tannenmangel gerne mal Bananenstauden verpflichtet. Bananen am Weihnachtsbaum? Kann vorkommen. Sogar Palmen können Kugeln tragen, und selbst Birkenfeigen steht Lametta gar nicht schlecht.

In Schaufenstern hingegen bemühen sich die Dekorateure erfolgreich um höchstmögliche Authenitizität: von Elchen gezogene Schlitten sausen da auf Watteschnee durch die vollklimatisierte Gegend. Auf den schicken Schlitten thronen Weihnachtsmänner mit Rauschebärten und dicken Bäuchen und sehen sehr ehrwürdig aus. Ihre lebenden Kollegen auf der Strasse haben mehr zu tun. Pausenlos säuseln sie diensteifrig in ihr Mikro: „Treten Sie näher meine Damen und Herren, nie hat es so billige Uhren gegeben, wie heute hier im Uhrenparadies“, behaupten sie - oder was der Job eben sonst verlangt. Dabei läuft Ihnen der Schweiß unter der Mütze aus Synthetik hervor und rinnt bis in die Rauschebärte aus Watte. Gelegentlich kratzen sie sich verstohlen unter dem dicken Bauch. Weihnachten ist eben so gar keine tropische Tradition. Und 38 Grad Hitze sind zu viel für jeden Weihnachtsmann.

Sonntag, 10. Dezember 2006

Trommeln für die Götter

Wenn die Sklaven ihre Feste feierten, stopften sich die Kolonialherren Watte in die Ohren und taten, als hörten sie die Trommeln nicht. Sie konnten den Sklaven das Feiern nicht verbieten, sie hatten es versucht und die Sklaven hatten heimlich weiter gefeiert, wenn die Götter es so wollten. Vielleicht waren die Verbote auch halbherzig geblieben, weil die weißen Kolonialherren Angst hatten vor der Macht der religiösen Rituale, vor Verwünschungen und schwarzer Magie. Das weiß heute keiner mehr so genau.

Magie jedenfalls gehört hier zum Alltag. In ihrer banalisierten Form tritt sie zum Beispiel als Badezusatz auf, der dem Käufer und Badenden für umgerechnet 40 Eurocents Freunde und Reichtum verschafft, ihn vom bösen Blick befreit oder einen begehrten Mensch in Liebe entbrennen läßt. Zu solchen Mittelchen kann jeder greifen, unabhängig vom Glauben. Flyer preisen die Dienste von Wahrsagerinnen, die gegen Gebühr das traditionelle Candomblé-Orakel aus Kaurimuscheln befragen – ebenfalls unabhängig vom Glauben. Von den komplizierten und vermutlich wirksameren Ritualen der „Terreiros“, der echten Glaubensgemeinschaften, findet der Laie bestenfalls Spuren: Auf einsamen Wegen liegen gelegentlich Hühnerfedern und Schnapsflaschen, oder Perlen und halbabgebrannte Kerzen – Reste eines Opferrituals oder eines „Trabalho“, eines Rituals, mit dem jemandem Gutes oder Schlechtes angetan werden kann. Candomblé ist kein Hokuspokus und hat im modernen Brasilien durchaus prominente Anhänger: Kultusminister Gilberto Gil bekennt sich dazu, ebenso wie der halbe Stadtrat von Bahia. So offen wird die Religion allerdings bis heute nur im schwarzen Salvador da Bahia praktiziert, wo sogar Touristen in Busladungen zu den Festen der Terreiros gebracht werden. Hier in Recife lebt der Candomblé versteckt.

Deswegen halte ich es zunächst für eine Halluzination, als mitten im schicken Strandviertel Boa Viagem direkt an der Strandavenida ein Linienbus hält, aus dem Frauen in Reifröcken und Rüschenblusen steigen, Männer in Leinenhosen und weißen Hemden, ausschliesslich Weißgekleidete. Weiß ist die Farbe des Candomblé. Es ist acht Uhr abends und am Strand leuchten noch viel mehr weiße Gestalten. Manche tragen zum Weiß blaue Ketten oder blaue Haarbänder, und damit ist klar: Keine Halluzination, sondern ein Fest für die Meeresgöttin Iemanjá. Der 8. Dezember ist nicht nur der Feiertag der Heiligen Maria der Empfängnis, sondern auch der von Iemanjá – seit damals die afrikanischen Sklaven hinter jedem katholischen Gott einen ihrer Götter versteckt haben.

Es hat etwas von einer Filmszene, als sich die weiße Gesellschaft auf einer Art runder Tanzfläche am Strand versammelt und anfängt, uralte Gesänge in der afrikanischen Sprache Yorubá anzustimmen - direkt vor der urbanen Kulisse der mehrspurigen Strandavenida und der Wolkenkratzer. Ein paar Touristen kommen neugierig gucken – von den Bewohnern der schicken Apartmenthäuser ist niemand zu sehen. Vielleicht haben sie Angst vor schwarzer Magie. Immer lauter rufen die Trommeln, immer mehr Menschen drängen sich auf der kleinen Fläche, in deren Mitte immer mehr Blumen darauf warten, Iemanjá überreicht zu werden. Kurz vor Mitternacht spricht ein weißhaariger Herr ins Mikrofon. Er erklärt den Tanzenden, daß dieser Platz am Strand ihnen gehört, daß sie dieses Rund von nun an jederzeit für Rituale nutzen können. Die Stadtverwaltung hat sich den Traditionen gebeugt. Weil auch in der Stadtverwaltung manche vom „Santo“ sind, wie der Herr sagt. Weil die Vereinigung der Pai-de-Santos, der Priester des Xangó*, nicht nachgelassen hat in ihrem Kampf um die Anerkennung ihrer Religion. Der Candomblé hat sich ein Stück Boa Viagem erobert.

Punkt Mitternacht tragen die Gläubigen einen Berg weißer Blumen zu einem hölzernen Fischerboot. Damit werden die Opfergaben weiter draussen auf dem Meer an Iemanjá übergeben, wie seit Urzeiten. Oben auf der Tanzfläche gehen die Gesänge weiter, rufen die Trommeln weiter. Sie werden die ganze Nacht trommeln, bis zum nächsten Morgen. Weil das die Tradition und die Götter so wollen. Die Anwohner können sich ja Watte in die Ohren stopfen und so tun, als hörten sie nichts. So wie damals.



* In Recife heißt der Candomblé auch Xangó

Montag, 4. Dezember 2006

Auf der Suche nach dem Geburtstagskuchen

Brasilianische Bürokratie ist anders. Flexibler. Persönlicher. Sympathischer. Und manchmal sogar schneller.

Letztens rief mir Luciana abends auf der Strasse hinterher: „Komm mal wieder deine Post holen, ich habe einen aviso für dich!“ Das muß der Kuchen sein, dachte ich. Meine Mutter hat mir einen Geburtstagskuchen geschickt, und wo ich wohne, kommt keine Post an. In den Strandorten der Gegend gibt es weder Briefträger noch Postämter. Statt dessen hat jedes Dorf einen Einwohnerverein mit einem Vereinsgebäude und Postfächern für die Vereinsmitglieder. Wer Post bekommen will, muß zuerst Mitglied im Einwohnerverein werden, um einen Schlüssel für eine der bienenwabenkleinen Postfächern zu ergattern. Für knapp 60 Eurocents pro Monat und Mitglied sortiert Luciana, die Vereinsangestellte meines Dorfs, die Briefe in die Fächer. Kommen Sendungen, die nicht in die Waben passen – wie etwa Geburtstagskuchen – , hinterläßt der Postwagenfahrer einen „aviso“, einen Hinweiszettel, dass ein Päckchen im nächsten Postamt wartet. Und weil es nur eine kurze Zeit dort wartet, sagt Luciana in solchen Fällen Bescheid. Nach Feierabend, auf der Strasse und ganz ohne Dienstvorschrift oder Überstundenlohn.

Im 30 Kilometer entfernten Cabo de Santo Agostinho gibt es ein spezielles Postamt nur für die Strandorte. Eine Art Lieferanteneingang mit einem einzigen Schalter, an dem keine Briefe aufgegeben werden können, nur abgeholt. In kleinen mit Gummibändern zusammengehaltenen Stapeln wartet dort vor allem die Korrespondenz all derjenigen, die kein Postfach haben. Jeweils ein Stapel für jeden Ort, schön alphabetisch geordnet: Telefonrechnungen, Ratenzahlungsmahnungen, dazwischen sehr vereinzelt mal ein handgeschriebener Brief von Verwandten.

Seu Chico ist Herr über die Stapel. Während er konzentriert in den Umschlägen blättert, halten die Wartenden ein Schwätzchen. Eine dicke Frau im Kittel wartet auf Post von ihrem Sohn, jeden Montag kommt sie gucken, ob er geschrieben hat, so wie andere Leute sonntags in die Kirche gehen. Ein alter Mann im verschlissenen Anzug wartet auf seinen Rentenbescheid, fünfzig Jahre arbeitet er als Zuckerrohrpflücker, jetzt mag er nicht mehr. Seu Chico kennt die meisten Wartenden mit Namen. Die dicke Dame vorn in der Schlange muß ihm nicht mal ihren Ausweis hin halten, schon streift er das Gummiband vom Stapel „Suape“ und blättert die Briefe einzeln durch. Von A bis Z. Nichts vom Sohn für die Dame. „Wirklich nicht?“, fragt sie traurig und Seu Chico blättert freundlich noch einmal von Z bis A. Wirklich nichts.

„Deins geht ganz schnell“, beruhigt mich ein wartender Bürobote in Uniform, als er meinen aviso sieht. Tatsächlich, zielstrebig schlurft Seu Chico zu einem Aktenschrank und angelt einen dicken Umschlag herunter. Sorgfältig malt er die Nummer des aviso auf ein Formular, das ich unterschreiben muß, bevor er mir den Umschlag überreicht wie ein Geschenk. Für einen Kuchen ist er allerdings reichlich flach. Es sind Zeitschriften. Für 28 Euro per Luftpost aus Deutschland geschickt. Sie waren sechs Wochen unterwegs. Ob der Kuchen auch so lange braucht? „Wenn du die Registrierungsnummer hast, kannst du nachmittags Vladimir anrufen“, rät mir Seu Chico. Vladimir ist Herr über den Computer des Postamts. Er kann auf der Stelle herausfinden, wo mein Kuchen ist, verspricht Seu Chico und schreibt mir die Telefonnummer auf.

Nachmittags erreiche ich Vladimir. „Ich rufe gleich zurück“, sagt er, nachdem ich ihm das Problem geschildert habe. Zum Zeitvertreib fange ich an, mir das Schicksal meines Kuchens auszumalen: Von einem altersschwachen Postauto gefallen und im Strassengraben gelandet, Opfer von streunenden Hunden oder gar Ratten? Verschimmelt im tropischen Lagerraum einer schlampig organisierten Verteilzentrale? Verputzt am Kaffeetisch eines hungrigen Briefträgers? Nach kaum zehn Minuten klingelt das Telefon. Vladimir hat den Computer befragt. „Dein Päckchen ist nie bis nach Brasilien gekommen!“, sagt er. „Es ist noch in Deutschland. Du mußt dort nachforschen lassen.“ Oh je. Wer schon einmal einen Nachforschungsantrag bei der deutschen Post gestellt hat, weiss: Dafür sind umständliche Formulare auszufüllen. Abzustempeln. Einzureichen. Und die Bearbeitung dauert meistens deutlich länger als zehn Minuten.

Mittwoch, 29. November 2006

Das Glück der Rush Hour

Wer in Recife abends um sechs in einen der Busse in die Vororte steigt, hat Glück. Glück, weil er es geschafft hat, sich in eine der fahrenden Sardinenbüchsen hineinzuquetschen. Glück, weil er damit zumindest schon mal auf dem Weg ist. Und Glück, weil die Rush Hour hier nicht ganz dasselbe ist wie in Deutschland.

An der Bushaltestelle an der Kaimauer des Cais Santa Rita riecht es um diese Uhrzeit nicht nur nach dem Wasser und Fisch des Capibaribe-Flusses, sondern vor allem nach akuter Smoggefahr und starken Parfums. In ordentlichen Schlangen wartet die arbeitende Bevölkerung neben dem alltäglichen Verkehrskollaps frisch gekämmt und parfümiert auf ihre Chance, nach Hause zu kommen. Um die Schlangen schwirren die Strassenhändler. Sie verkaufen Bonbons und Cola, Orangen und Kaugummis, Eis und Kekse und Bustickets für ein paar Cents weniger als beim Kontrolleur: Wer um diese Uhrzeit hier steht, muß mit jedem Cent rechnen. Die Busse fahren in mehr oder weniger weit entfernte Vorortviertel mit Namen wie: „Zwei Hammel“, oder „Halsstarriges Brasilia“. Viele davon sind nicht durch ordentliche Stadtplanung mit ebenso ordentlicher Namensgebung sondern durch illegale Besiedlung entstanden – irgendwann haben sich die Spitznamen einfach eingebürgert.

Namenlesen ist ein netter Zeitvertreib beim Warten auf den Bus. Keinesfalls darf man sich aber dadurch ablenken lassen, denn wenn in für auch nur schwach Kurzsichtige noch unlesbarer Entfernung der richtige Bus auftaucht, gerät Bewegung in die Schlangen: Manche ordnen nur brav ihre Plastiktüten, andere machen sich bereit zum Sprint. Eigentlich finde ich Vordrängen unfair. Aber ich warte hier schon 40 Minuten, bin seit drei Stunden unterwegs, habe mindestens noch zwei vor mir, und es wird langsam dunkel. Deswegen renne ich mit zwei graumelierten Herren los, auf die mehrspurige Strasse in Richtung Bus. Zum Glück hat der Fahrer Mitleid und läßt uns nicht mitten im Verkehr stehen, sondern öffnet die Tür zum Einsteigen.

Weiter als bis auf die erste Stufe komme ich nicht: Hätte ich an der Haltestelle gewartet, wäre ich stehen geblieben. Zwölf Personen zähle ich im Bereich der Fahrerkabine, wie viele danach kommen, ist nur am Stimmengewirr, der Hitze verschwitzter Körper und dem Duftgemisch der Deodorants, Haargels und Parfums zu erahnen. Die Tür schließt sich hinter mir, aber der Bus fährt nicht los - heillose Verstopfung auf der Strasse. „Heute wird die neue Beleuchtung im Abgeordetenhaus eingeweiht– da sind mehrere Strassen gesperrt“, erklärt einer. „Immer diese Politiker“, murrt ein anderer, „können die ihre Beleuchtung nicht tagsüber einweihen!“ „Ist es schon Mitternacht?“, fragt der nächste, dessen Stimme so klingt, als habe er nach Feierabend in rascher Folge ein paar Schnäpse gezwitschert. Inzwischen haben sich alle irgendwie eingerichtet, durch die Frontscheibe haben wir Kabinengäste freien Blick auf die verstopfte Strasse und den dramatischen Abendhimmel, und die meisten sehen ziemlich zufrieden aus.

„Und Lula?“, fragt die fröhliche Schnapsdrossel gerade. „Lass den Mann seinen Job machen“, antwortet sein Nachbar –der diesen Spruch aus Lulas Wahlwerbung wohl öfter gehört hat, als seinem Hirn gut tut. Da kommt eine Haltestelle in Sicht. „Nein“, brüllen wir auf, einig wie eine Horde Fußballfans, wenn das gegnerische Team ein Tor zu schießen droht: „Bitte nicht anhalten!“ Vielleicht fürchtet der Fahrer eine Meuterei, vielleicht findet er auch, daß wirklich keiner mehr reinpaßt – jedenfalls fährt er durch. Wir johlen glücklich und ich verdränge nahezu mühelos den Gedanken an die Wartenden da draussen, die jetzt womöglich noch 40 Minuten später nach Hause kommen. „Und Lula?“, fragt die Schnapsdrossel wieder. Langsam werden wir zu einer großen Familie, die auch kauzige Verwandte großzügig akzeptiert. „Lass den Mann seinen Job machen“, antworten jetzt schon mehrere im Chor. „Wie viele Touren mußt du heute noch fahren“, fragt einer mitleidig den Chauffeur, der tapfer jede Chance wahrnimmt, uns ein paar Meter voran zu kämpfen. „Noch drei“, sagt der, und das klingt, als sei er der Familienvater und nehme jede einzelne Tour als persönliche Herausforderung.

„Hey, mir hat jemand an den Hintern gegrapscht!“, quietscht eine Matrone zwischen Entzücken und Entsetzen. „Bin ich der Dame zu nahe getreten?“, fragt, na wer wohl? – genau, es ist die Schnapsdrossel. „Sagen Sie Madame, habe ich Ihnen etwas getan?“. Diskretes Kichern zieht durch die Traube der Kabinenfamilie. Madame schweigt und die Schnapsdrossel fragt triumphierend: „Und Lula?!“. Und „Ist es schon Mitternacht?“ „Mit Gottesfurcht und Vertrauen kommen wir heute noch an!“, beruhigt ihn ein anderer. Irgendwann klebt ein magerer Kerl an mir, kurz darauf steigt eine duftende Studentin mit großzügigem Dekolleté zu, und der Magere schmiegt sich in die andere Richtung. Danach folgt eine glückliche Phase, in der ein Zwei-Meter-Mann nach dem Zusteigen einfach mit dem Rücken zur Tür stehen bleibt und in der mehrere Haltestellen lang niemand unsere Fahrerkabine entern kann.

Es ist schon schwarze Nacht, als die ersten unserer Heimfahrerfamilie aussteigen. Ein frischer Luftzug weht vom offenen Fenster herüber, ein Sitzplatz wird frei und noch einer und noch einer. Ich sitze. Neben mir eine Schwangere mit einem Neun-Monats-Bauch, dahinter drängt eine mit Plastiktüten beladene Blondine. Eine nach der anderen reicht sie uns ihre Tüten. Das ist hier so üblich. Die Schwangere teilt ohne zu murren die Last gerecht auf, bis wir beide darunter fast verschwinden. Dann stapelt sie plötzlich auch ihren Tütenanteil auf mir. Hä? Was ist jetzt los? Ok, ich verstehe: Mit einem glücklichen Lächeln lädt sich die Schwangere jetzt die beiden Söhne der Blondine auf den Schoß und bettet ihre blonden Köpfe auf ihren Neun-Monats-Bauch. So ist das hier in der Rush Hour.

Samstag, 25. November 2006

Privatsphäre, was ist das?

Hier hat jeder Anteil am Leben der Anderen. Das fängt damit an, daß ich morgens um fünf Uhr wach werde, wenn die ersten Vögel anfangen zu singen. Nicht die Vögel wecken mich, sondern meine Vermieterin, die um diese Uhrzeit gerne ihr Geschirr wäscht. Da ihr Waschbecken nur durch eine magere Mauer von meinem Schlafzimmer getrennt ist, wäscht sie ihr Geschirr sozusagen neben meinem Bett. Wenig später hat der neue Hund meines Nachbarn seinen Einsatz: Der Nachbar arbeitet den ganzen Tag in seiner Bar, und der Hund bleibt derweil angebunden in seinem Hinterhof. So viel Privatsphäre findet der Hund gar nicht gut, also weint er. Oft stundenlang. Das scheint niemanden zu stören, ich bin durchaus nicht die einzige, die in Hörweite wohnt. Also versuche ich, das Leben in dieser Reihenhaussiedlung am Meer als meditative Übung ansehen und die Geräusche einfach nur wahrzunehmen, ohne zu werten. Am besten gelingt mir das mit den Schiffssirenen, die gelegentlich übers Meer herüber tröten. Die Samstagsnächte, wenn der Wind den Gesang der völlig verstimmten Pagode-Band vom Dorfplatz an mein Bett weht, überlebe ich nur mir Ohrstöpseln.



Auch die Pagode-Band scheint außer mir niemanden zu stören. „Was?“, fragen die Leute hingegen, und dabei klingt ein entsetzter Unterton mit: „du wohnst allein? Ist das nicht schrecklich einsam?“ Allein ist relativ. Die Nachbarn leben maximal zehn Meter entfernt. Ich höre ihre Hunde, ihr Geschirr, das Klackern der Dominosteine auf ihren Tischen und ihren Ehekrach. Sie hören jede Musik die ich höre, jedes Telefonat, das ich führe, jedes Fernsehprogramm, das ich einschalte, kurz: jedes Lebensgeräusch von mir. Und weil das noch nicht reicht, rief es vor ein paar Tagen plötzlich „Cristina!“ von der Strasse. Meine Nachbarin beugte sich so weit über mein Gartentor, daß es fast aus den Angeln brach, und reichte mir eine Schüssel mit Reis: „Magst du mal probieren?“, fragte sie freundlich. Bis dahin hatte sich unser Verhältnis auf verhalten neugierige Blicke ihrerseits und freundliches aber einsilbiges Grüßen meinerseits beschränkt. Doch an diesem Tag gab es auf meiner Terrasse einen Mann zu sehen. Womöglich hielt der gerade Einzug in mein armes einsames Leben. Vermutlich war die Nachbarin besorgt, ob ich die richtige Wahl getroffen hatte.



Besorgt sind die Leute häufig. Als ich letztens ein paar neue Pflanzen setzte, hielt gleich der erste Passant an und beäugte mißtrauisch meine Tätigkeit. „Die pflanzt du besser da drüben hin“, erklärte er mir schließlich, „Rosen lieben Halbschatten.“ Derweil hatte sich ein zweiter Passant dazugesellt, der dem ersten Recht gab. Die dritte Passantin fragte, ob ich vielleicht Ableger von ihrem Hibiskus haben wolle. Und die vierte bot Orchideen an. Kaum ein paar Wochen später hatte sich die Pflanzenvielfalt in meinem Garten verdoppelt – alles Spenden freundlicher Passanten. Ein anderes Mal brüllte es draußen solange: „Cristina!“, bis ich mich trotz fieser Grippe ans Gartentor schleppte. Der Brüller war der kleine Nachbarssohn, der sich sorgte, weil er mich an dem Tag noch gar nicht gesehen hatte. Er brachte vorsichtshalber einen Teller Suppe mit und fragte, ob er für mich einkaufen solle. Seitdem versorgt er mich, wenn ich krank bin und meine Hunde, wenn ich verreise. Als Gegenleistung habe ich versucht, ihm zu erklären, warum die Menschen in meinem Land so gerne allein leben.



Wir Deutschen lieben unsere Privatsphäre. Wir reisen in der Bahn am liebsten auf einem Fensterplatz im Großraumabteil, würden uns im Restaurant nicht zu Fremden an den Tisch setzen, kennen im Mietshaus selten unsere Nachbarn und halten am Bankschalter ordentlich Abstand – aus Diskretion. Vornehm zurückhaltend kann man das finden. Oder ziemlich verschroben. Alles Ansichtssache.



.

Montag, 20. November 2006

Zimtbraune und Weizenbraune sind nicht schwarz

Laut Statistik ist die Hälfte der Bevölkerung Brasiliens schwarz. Tatsächlich bin ich – zumindest hier im Nordosten - meist die Hellste weit und breit. Aber schwarz? Sind die meisten anderen auch wieder nicht. Wo fängt schwarz an, wo hört schwarz auf? Das sind Fragen, mit denen wir Deutschen nicht so viel zu tun haben, die Brasilianer hingegen reichlich. Vor Jahren, bei meinem ersten Brasilienbesuch habe ich mich gewundert, als in einer Frauenzeitschrift auf den Seiten mit Bekanntschaftsanzeigen die einsamen Jungs ausnahmslos alle betonten, sie seien „moreno claro“ – hellbraun. Hier ist das wichtig. Je heller, desto mehr Chancen im Leben und bei den Frauen. Mitten im 21. Jahrhundert heißen hier krause Haare immer noch „schlechte Haare“, verlangen Arbeitgeber in ihren Stellenanzeigen „angenehmes Äußeres“ und meinen damit: Die Kandidaten sollen weiße Haut haben.


Das sind schwierige Voraussetzungen für ein schwarzes Bewußtsein. Schwarze sind als Helden vor allem im Karneval, in der Musik und beim Fußball erlaubt. Auch am heutigen Gedenktag wird das schwarze Bewußtsein mancherorts nur mit Tanzgruppen und schwarzen Bands gefeiert – ganz dem Klischee verhaftet. Dabei könnte ein bißchen mehr Bewußtsein wirklich nicht schaden: Pünktlich zum Festtag (Feiertag in immerhin 225 Städten) gibt das Amt für Statistik Ibge bekannt, daß Schwarze immer noch halb so viel verdienen wie Weiße. Eine andere Untersuchung zeigte kürzlich, daß in den großen Firmen nur 3,5 Prozent der leitenden Angestellten Schwarze sind. Jetzt soll ein neues Gesetz Quoten für Schwarze einführen. An den öffentlichen Unis, im öffentlichen Dienst und sogar in Werbung und TV-Produktionen. Die Intellektuellen diskutieren seit Monaten eifrig darüber, ob das Gesetz ein Fortschritt ist – weil es bessere Chancen für Afro-Brasilianer garantiert. Oder ein Rückschritt – weil damit die Existenz unterschiedlicher Rassen erst juristisch zementiert wird.


Die andere Frage wird dabei oft vergessen: Wer ist eigentlich schwarz? Wer schwarze Eltern hat? Wer negroide Züge aufweist, „schlechtes Haar“ und dunkle Haut? Das scheinen die Brasilianer selbst nicht so genau zu wissen. In einer der Umfragen des Ibge sollten sie ihren Hautton selbst beschreiben: Mehr als hundert verschiedene Farben kamen dabei heraus – darunter so vielsagende Neuschöpfungen wie Zimtbraun, Weizenbraun, Sonnenverbrannt, Schmutzigweiß, Fastweiß, Hellbraun, Gebrochen Weiß oder Nußbraun. Also alle nicht schwarz. Gelten für die Zimtbraunen und Gebrochen Weißen die Quoten dann trotzdem? Oder werden sich mit Einführung von Quoten plötzlich alle Brasilianer als schwarz bezeichnen wollen? Bislang ist eher das Gegenteil der Fall. „Ich denke, daß alle Schwarzen im Fußball unter Rassismus zu leiden haben“, sagte Star-Fussballer Ronaldo letztes Jahr in einem Interview. „Ich als Weißer leide unter so viel Ignoranz.“

Dienstag, 14. November 2006

Ein kleines Hotel am Strand - deutsche Lebensträume in Brasilien

Wir Deutschen haben nicht gerade den Ruf, das phantasievollste Volk der Welt zu sein. Vielleicht fasziniert uns deswegen Brasilien mit seinen Überlebenskünstlern so. Die Deutschen stehen unter den europäischen Brasilienurlaubern an zweiter Stelle (gleich nach den Portugiesen), und die meisten kommen mehr als einmal. Kein Wunder, daß mancher irgendwann von einem Aussteigerleben unter ewiger Sonne an einem palmenbestandenen Strand träumt. Wie kann ich an einem solchen Paradies leben, und trotzdem Geld verdienen, fragen sich die deutschen Brasilienfans. Und finden flugs eine Antwort: Ja, klar, das ist es – ein kleine nettes Familienhotel an einem idyllischen Ort aufmachen. Wer nicht vom Hotel träumt, macht ein Restaurant auf, und damit ist die Bandbreite der Kreativität auch schon am Ende. Neun von zehn Deutschen, die ich hier treffe, haben ein kleines Hotel am Strand. Glücklich sind viele meiner Mit-Deutschen in Brasilien trotzdem nicht.

Mein Nachbar hat einen halben Lebenstraum verwirklicht. Er besitzt etwas, das mal ein Familienhotel werden will. Auf seinem großen, sorgfältig gemalten Schild heißt es: „Pousada, hier sprechen wir Deutsch“ – beinahe wie im Film von Gerhard Polt. Pousada heißt Pension auf Portugiesisch. Auf dem Schild zeigt ein Pfeil die Richtung, aber eine Pension ist nicht zu entdecken. Statt dessen steht in der Pfeilrichtung ein Rohbau, davor wartet der Betonmischer auf Handwerker, die nie kommen: vielleicht ist dem Besitzer nach dem Schildermalen das Geld ausgegangen. Immerhin steht die Bauruine seiner Träume direkt am Strand – und vielleicht ist mein Nachbar glücklich. Vielleicht wohnt er auch gar nicht mehr hier: Ich habe ihn noch nie gesehen.

Karl hat seinen Lebenstraum aufgegeben. Er hatte sich ebenfalls in einen Strandort verliebt, hat eine Erbschaft gemacht und - ja genau - beschlossen, ein kleines Hotel aufzumachen. Weil Karl nicht – wie der andere - sein ganzes Geld für das Grundstück ausgeben wollte, kaufte er keine Strandlage. Und ist jetzt chronisch pleite und Besitzer eines kleinen Hotels mit neun Zimmern und einem großen Garten, das niemand findet, weil es in einer der kleinen Hinterstrassen des Orts versteckt liegt. Karl stellt schon lange keine Schilder mehr auf oder macht sonstwie Werbung für sein Hotel. Er lebt überwiegend in seinem Garten, wo er Orchideen züchtet und Bananen pflanzt: die Orchideen verkauft er gelegentlich an Sammler und die Bananen kann er immerhin essen.

Thomas hat seinen Lebenstraum satt. Dabei ist sein kleines Hotel fertig gebaut – für die letzten Zimmer hat sich Thomas seine Lebensversicherung auszahlen lassen, denn zurück wollte er sowieso nicht mehr. Dann ist sein Ort vom Geheimtipp für abgebrannte Rucksackreisende zum Lieblingsferienort für hippe Typen aus Europa und Brasilien avanciert und die einst einsame Lage von Thomas’ Hotel zum idealen Standort abseits des Trubels. Das heißt: Thomas kann von seinem Hotel leben. Er muß nicht mal mehr viel arbeiten, Zimmermädchen, Köchin und Gärtner machen ihren Job zuverlässig. Jetzt schaukelt Thomas meistens in der Hängematte und guckt auf den idyllischen Strand. Tolles Leben? Findet Thomas nicht. Die ersten Jahre, als das Geld endlich gereicht hat, seien ja noch ganz nett gewesen, sagt er. Aber immer nur auf den Strand gucken! Manchmal frage er sich schon, warum ihm nichts Besseres eingefallen ist.

Klaus-Dieter ist glücklich ohne Lebenstraum. Sein Traum war die Pension, die er vor zwanzig Jahren von seinen Ersparnissen gebaut hat. Die lief so schlecht, daß Klaus-Dieter sich schon bald als Fremdenführer auf Ökotouren durch den Wald versuchte. Aber den Brasilianern war es zu heiß im Tropenwald – Strandurlauber wollen hier lieber im Schatten sitzen, als bei sportlichen Aktivitäten zu schwitzen. Also hat Klaus-Dieter ein Restaurant aufgemacht. Nachdem er das Restaurant mangels Gästen wieder schließen mußte, hat er eine Räucherkammer gebaut und Hühnerbrüste und Fische geräuchert. Das war so exotisch, daß sich dafür sogar Kunden fanden. Nur zum Leben hat der Verdienst wieder nicht gereicht. Vor einiger Zeit erzählte mir Klaus-Dieter, er habe die Dauerpleite satt, er werde jetzt in die Politik gehen. Kürzlich traf ich ihn wieder: Klaus-Dieter hat jetzt einen Job als Umweltsekretär eines winzigen Ortes und dafür sogar die brasilianische Staatsangehörigkeit angenommen. Als Umweltsekretär verbringt er den halben Tag im eisgekühlten Büro und die andere Hälfte des Tages in stickigen öffentlichen Transportmitteln - am Strand ist er so gut wie nie. Aber glücklich ist Klaus-Dieter. Vielleicht, weil er selbst zum Überlebenskünstler geworden ist.

Samstag, 11. November 2006

Robertos Hausangestellte gibt ihm keine Tipps in Liebesdingen

Roberto hat eine Hausangestellte. Viele Brasilianer haben Hausangestellte, denn die sind hier nicht sehr teuer. Eine „Empregada“ putzt, wäscht und kocht an sechs bis sieben Tagen in der Woche von morgens bis abends für ihre Herrschaft. Dafür bekommt sie normalerweise einen gesetzlichen Mindestlohn im Monat (umgerechnet 125 Euro). In den Telenovelas im brasilianischen Fernsehen sind Empregadas häufig dick und geschwätzig und so etwas wie das Herz der Familie. Sie kochen dauernd Kaffee, hören alles, sehen alles und geben ihren Herrschaften trotz des knappen Lohns gerne kostenlose Tipps in Liebesdingen.


Bei meinem Nachbarn Roberto ist das alles ein bisschen anders. Seine Empregada ist dünn, schweigsam und mitnichten das Herz von Robertos Familie. Roberto ist nämlich Single und den ganzen Tag nicht da. Praktisch bewohnt also seine Hausangestellte Robertos Einzimmer-Küche-Bad-Mietwohnung mit Gartenanteil direkt am Meer. Sie kommt im Laufe des Vormittags, wenn Roberto schon in der Arbeit ist, kocht sich erst mal einen Kaffee und setzt sich unter den Mangobaum, um ein bißchen in Robertos Zeitung zu blättern. Danach fegt sie die Einzimmer-Wohnung und schüttelt die Laken aus. Dann ruht sie sich im Schatten des Mangobaumes aus. Später geht sie einkaufen. Mit Tüten beladen kommt sie wieder und macht sich ans Kochen. Roberto ißt gern, das sieht man ihm an. Seine Empregada kocht Gulasch und Fisch in Kokossauce, dass es nur so duftet. Manchmal backt sie auch Kuchen.


Jeden Tag um Punkt zwölf Uhr ist Mittagspause. Dann kommen die Gäste. Das sind drei Kolleginnen von Robertos Empregada, die in der Nähe arbeiten, ihr Ehemann, der auch in der Nähe arbeitet, ihr kleiner Sohn und an manchen Tagen auch noch ihre Schwiegermutter. Die kleine Gesellschaft rückt sich Robertos Gartenstühle zurecht, deckt den Tisch unter dem Mangobaum und fängt an zu schmausen. Gulasch gibt es und Fisch in Kokossauce und manchmal einen Kuchen. Das Meer rauscht im Hintergrund, eine zarte Brise bläst herüber, die Gäste reden ausgiebig über Liebesdinge und ihre Herrschaften, und oft brechen sie erst in der Dämmerung auf. Dann schreibt Robertos Hausangestellte noch den Einkaufszettel für den nächsten Tag und macht Feierabend.


Wenn Roberto abends nach Hause kommt, ist keiner mehr da. Er wärmt sich also allein den Gulasch auf oder den Fischeintopf, setzt sich allein an seinen Gartentisch und liest allein seine Zeitung. Danach wärmt er sich den Kaffee auf und genehmigt sich ein Stück Kuchen. Und niemand gibt ihm Tipps in Liebesdingen.

Mittwoch, 8. November 2006

Ficar - die ultimative Ausrede?

Es gibt ja so Worte, die sich Fremden in einer Sprache schwer bis gar nicht erschließen. Vom Portugiesischen heißt es, das Wort Saudade sei nicht übersetzbar, weil nicht einmal das Gefühl in anderen Sprachen wirklich nachfühlbar sei. Sehnsucht käme der Saudade nur bedingt nahe, weil ja auch noch Schwermut mit darin schwebe und diverse andere Nuancen. Spezialisten können da stundenlang an Annäherungen feilen.


Jetzt ist in Brasilien ein neuer Begriff aufgetaucht, der der Saudade an Unübersetzbarkeit kaum nachsteht: Ficar. Wörtlich heißt das „bleiben“. Ist also sehr wohl übersetzbar. In der einfachen Verwendung, wie: Ich bleibe noch auf der Party. Aber was ist gemeint, wenn Eva sagt: Ich bin gestern abend mit Pedro geblieben? Das neue Ficar hat etwas mit Intimitäten zu tun, so weit ist leicht geraten. Und weiter? Hat sie nun Händchen gehalten, rumgeknutscht oder war sie im Bett mit dem Kerl? Gesagt hat sie nur: "Fiquei – ich bin geblieben".


Was zum Teufel heißt Ficar? Ich habe Lulu gefragt. Lulu ist achtzehn, ist bisher mit zwei Typen geblieben und noch Jungfrau. Lulu sagt: Ficar kann schüchternes Händchenhalten sein oder wildes Rumknutschen, kann voll bekleidet in der Öffentlichkeit stattfinden oder unbekleidet in einem Bett. Wenn also Eva sagt: ich bin mit Pedro geblieben, kann das heißen, die beiden haben Sex miteinander gehabt. Es kann aber auch heißen, sie haben sich nicht einmal geküßt, nur umarmt. Bleibt alles vage. Nur eine Sache ist sicher bei Ficar: Es ist nicht von Dauer.


In einem momentan ziemlich angesagten Forró-Stück heißt es: Eu nao quero compromisso, só quero ficar - Ich will keine Verpflichtung, ich will nur bleiben. Da klingt das rheinische „Rummachen“ an, eine vor allem im Karneval oder sonst bei alkoholisierten Gelegenheiten auftretende spontane Paarbildung von kurzer Dauer und ohne Verpflichtung. Und das kommt dem Ficar schon fast so nahe wie die Sehnsucht der Saudade.


Ficar ist hundertprozentig unverbindlich. Kann heute mit Pedro und morgen mit André sein, oder sogar auf der gleichen Party mit Luis und José. Wenn zwei miteinander geblieben sind, grüßen sie sich beim nächsten zufälligen Treffen, mehr Intimität zeigen sie normalerweise nicht. Wenn einer der beiden später mit anderen bleibt, ist keine Eifersucht zulässig. Es ist ok, mehr als einmal mit dem gleichen Partner zu bleiben. Aber nie, nie, nie, darf man über einen Zeitraum von mehr als ein paar Monaten mit dem gleichen bleiben. Dann wird es namoro, die beiden sind zusammen, und die üblichen Verpflichtungen brechen über sie hinein.


Der Kerl hat also eine feste Freundin, eine namorada, und macht auf einer Party mit einer anderen rum? Nicht ok. Ausser, der Kerl sagt. War nichts Ernstes, ich bin mit der anderen doch nur geblieben.

Klingt beinahe so, als sei Ficar die ultimative Ausrede für unstete Typen.

Sonntag, 5. November 2006

Die schönsten Pummelchen der Welt

Neben mir sitzt eine Dame mit blutunterlaufenen Augen, rotbraun gefärbtem schütterem Haar, reichlich Altersflecken auf der Hand – und der zarten Gesichtshaut einer 15Jährigen. Ihre Nachbarin hat was von Michael Jackson auf Brasilianisch: winzige Stupsnase, bleiche Haut, seltsamer Haaransatz, leicht schräge Augen. Ich sitze mit meiner Freundin im Wartezimmer von Henylda, einer der beliebtesten Schönheitschirurginnen Recifes. Henylda macht alles, von der Mini-Lipo bis zur Nasenkorrektur.

Beth will sich ihre Stirnfalten mit Botox wegspritzen lassen und fragt gleich mal in die Runde, ob jemand Erfahrung mit Botox hat. Und schon kommen alle ins Gespräch. Miss Michael Jackson will sich die Wangen liften lassen. Die hängen zwar gar nicht, aber Miss Jackson wohnt in den USA und da ist alles viel teurer. Hier sagt sie ihrem Mann einfach, sie gehe zum Friseur und läßt sich schnell ein paar Goldfäden in die Wangen ziehen. Wenn die dann irgendwann wirklich zu hängen drohen, kann sie die einfach immer nachspannen lassen, praktisch, oder? Eigentlich ist die Dame richtig sympathisch. Und das Lifting wird ihre erste Schönheits-OP sein – ihre Ähnlichkeit mit dem psychopathischen Popstar hat sie einem Verkehrsunfall zu verdanken. Klischees stimmen eben doch nicht immer.

Brasilianerinnen sind schön. Auch wenn sie übergewichtig sind. Auch wenn manche zu kurze Beine haben. Oder blutunterlaufene Augen. Die bekommt man, wenn man sich die Tränensäcke wegschneiden läßt, erklärt die Dame mit der sonst so rosigen Gesichtshaut. Geht aber bald wieder weg. Und Botox ist gar kein Problem, das dauert nur fünf Minuten, beteuert eine attraktive Rothaarige undefinierbaren Alters, die neben ihrer pummeligen Freundin sitzt. Was machen denn die beiden hier? „Ich mache eine Lipo am Bauch“, sagt die Pummelige, „der stört mich zwar nicht wirklich, aber irgendwie ist es blöd, größere Kleidergrößen zu brauchen als meine Mutter“. „Ich hab schon so ziemlich alles gemacht“, kichert die Mutter gutgelaunt. „Zuerst Botox, dann die Fältchen an der Oberlippe aufpolstern lassen, dann Lipo...“ Heute begleitet sie nur ihre Tochter. Aber das mit den Tränensäcken, das wäre natürlich eine Überlegung wert. Überhaupt sind hier alle ganz locker. Nicht so, als müßten sie traumatische Defekte an ihrem Körper beseitigen.

Müssen sie auch nicht. Die Brasilianerinnen haben nämlich ein ganz anderes Verhältnis zu ihrem Körper als wir Europäerinnen. Erstens können sie ihn nicht über die Hälfte des Jahres verstecken, weil Wintertemperaturen von 28 Grad keine dicken Klamotten rechtfertigen. Zweitens wollen sie ihn gar nicht verstecken. Egal, ob sie aussehen wie Gisele Bündchen, oder doch eher wie Maria XXL. Die ersten XXL-Marias in knappen Miniröcken und bauchfreien Shirts habe ich noch für ihren Mut bewundert. Mit der Zeit habe ich gemerkt, daß sie gar keinen Mut brauchen. Eine Bauchbesitzerin kann – ganz besonders hier im Nordosten - mehr Erfolg haben als eine Bauchlose, Vor allem, wer seine „Gostosura“* mit dem rechten Hüftschwung präsentiert, kann sich bewundernder männlicher Blicke sicher sein. Aus europäischer Sicht verunsichert das erst mal. Gibt es hier keine Diäten? Muß hier niemand kaschierende Flatterkleidchen über die Fülle hüllen? Hautenge Tops und Lycrajeans für alle? Ist das denn ästhetisch? Und wozu dann noch Schönheitsoperationen?

Meine Antworten nach ausgiebiger Feldforschung:

- Lycra für alle? Ja! Aus hautengen Tops quellende Üppigkeit findet viele Fans.

- Diäten? Machen manche Mädels trotzdem – um sie spätestens bei der nächsten Strandparty konsequent abzubrechen. Das ist erstens sympathisch und zweitens garantiert gesünder für Körper und Geist.

- Flatterkleidchen als Versteck? Nicht mal in der Körperkult-Hauptstadt Rio sind alle Frauen elfengleiche Models. Die anderen tragen auch Tangas und sonnen sich auch an der Copacabana.

- Schönheitsoperationen? Sind hierzulande vermutlich eher mit einem Frisörbesuch zu vergleichen als mit tiefenpsychologisch wirksamen Persönlichkeitsveränderungen: Schauspielerin Sonia Braga hat sich gerade generalüberholen lassen und präsentiert das Ergebnis stolz in der aktuellen Telenovela, nach dem Motto: „Guckt mal, wie hübsch das geworden ist!“
Das brasilianische Selbstbewußtsein ist übrigens so ansteckend, daß schon wenige Wochen Brasilien reichen, um sich den ersten Minirock zu kaufen. Nach spätestens einem halben Jahr ist der erste einheimische Bikini fällig – neben dem alle europäischen Modelle zwingend so aussehen, wie aus Urgroßmutters Klamottenkiste. Keine Ahnung, wie lange es dauert, den Hüftschwung zu erlernen. Der die Brasilianerinnen zu den schönsten Pummelchen der Welt macht. Selbst wenn sie keine Pummelchen sind. Aber das ist ja zum Glück Nebensache.



* Gostosura bedeutet so etwas wie lecker Rundungen

Dienstag, 31. Oktober 2006

Üben für die Kriege der Zukunft

Wasser kommt ja hier nicht einfach aus dem Hahn, wie man das in Deutschland so gewohnt ist. Im Sommer, der hier demnächst so richtig losbrennt, wird in vielen Strandorten das Leitungswasser rationiert: 24 Stunden für die eine Dorfhälfte, die nächsten 24 Stunden für die andere. Oder so ähnlich. Glücklich, wer einen großen Wassertank besitzt. Die anderen füllen Flaschen und Eimer und Schüsseln. Und waschen an den trockenen Tagen im gleichen Wasser erst die Haare und dann die Wäsche.

Dabei ist Brasilien reich. Das Land verfügt über nahezu 15 Prozent der gesamten Süsswasserreserven der Erde. Nur die Verteilung ist ungerecht - wie ja überhaupt das Meiste hier in Brasilien ungerecht verteilt ist. Im menschenarmen Amazonasgebiet ist überreichlich Wasser, der gesamte Nordosten hingegen muß mit kümmerlichen drei Prozent auskommen. Und wie von allen Dingen nehmen sich auch vom Wasser die Reichen am meisten. Die haben in ihren Strandhäusern Swimming-Pools im Hollywood-Stil, in denen sie jede Woche mehrere Kubikmeter Wasser austauschen. Wenn es richtig heiß wird, berieseln manche ganztägig ihr Hausdach aus dem Gartenschlauch – zur Kühlung. Und damit es nicht so staubt, sprengen sie außerdem die Strasse vor ihrem Haus mehrmals täglich. Jeder Brasilianer verbraucht statistisch gesehen mehr als 400 Liter Wasser am Tag. Wenn die einen ihre Pools füllen, bleibt für die anderen nicht mehr viel übrig.

Das ist auch im Paradies nicht anders. Das Paradies ist ein winziger Abschnitt einer Steilküste in einem Nationalpark südlich von Recife. In einem Nationalpark darf natürlich eigentlich niemand wohnen. Weil aber schon Bewohner da waren, bevor der Park geschützt wurde, leben doch Menschen hier: Für die Alt-Eingesessenen gilt das Gesetz nicht. Für das öffentliche Wasserwerk gilt es sehr wohl: Es darf für die Paradiesbewohner keine Wasseranschlüsse legen. Der Vorteil daran: Wo keine Anschlüsse sind, kann auch nicht rationiert werden. Also haben sich manche der Nationalparkbewohner ein paar Meter Rohre gekauft, haben nachts das Hauptrohr auf der Hauptstrasse angezapft und ihren eigenen Anschluß gelegt. Weil das Ganze schnell gehen mußte, und weil das Paradies auf Granit ruht, haben sie die Rohre nicht sehr tief vergraben. Das heißt: Es ist ziemlich leicht, die illegalen Rohre noch illegaler anzuzapfen.

Das tun anscheinend jeden Tag neue Nachbarn bei unserem Wasserrohr. Bei mir kommt nämlich seit Tagen nur noch kümmerliches Tröpfeln an. Und gestern, als ich unter der Dusche stand, ist auch das Tröpfeln versiegt. Als ich das meinem Vermieter erzählt habe, hat der heute ganz früh morgens brutal und konsequent alle Schmarotzer von unserer Leitung abgekoppelt. Daraufhin sprudelte es hier wieder üppig. So ein paar Stunden lang. Dann hat sich wohl einer der Abgekoppelten gerächt und unsere Leitung mit einem schweren Stein gesprengt. Die Kriege der Zukunft werden ums Wasser geführt, sagen Experten. Üben die Paradiesbewohner schon für die Kriege der Zukunft?

Montag, 30. Oktober 2006

Sieg für den Mann aus Marzahn

Er ist der Mann aus Marzahn. Ich meine, wenn man sich mal vorstellt, wer Lula in Deutschland wäre. Einer, der sich mit Schule nicht lange abgegeben hat, der Hunger gelitten hat, sagen wir in Castrop-Rauxel, bis er mit seiner Mutter in die Großstadt flüchtet. Wo es dann doch nur für Marzahn reicht. Da wächst der Junge auf, bolzt auf der Strasse mit seinen Kumpels, wird Metallarbeiter, malocht aber nur kurz, weil er gleich einen Finger verliert und sich außerdem in der Gewerkschaft engagiert. Der Typ aus Marzahn lernt, öffentlich aufzutreten. „Kumpels“ bleibt sein Lieblingswort, auch als Präsident. Die verpaßte Bildung holt er nie mehr nach. Kommt viel besser an, wenn er sich selbst als Aufstiegswunder stilisiert, nach dem Motto: „Wenn einer wie ich Präsident werden kann, dann gibt es keine Grenzen!“ Ein Mann aus dem Volk, der viel schwitzt und viel redet. Der „icke dette kieke mal“ sagt. Einer wie wir.



So einen haben die Brasilianer gerade gewählt. Das Ende der Stimmen-Auszählungen muß man gar nicht mehr abwarten, er hat mit guten 60 Prozent (gegen 39 für Alckmin) so haushoch gewonnen, wie eigentlich schon im ersten Wahlgang erwartet. Weil der gemeine Brasilianer sich prima mit einem identifizieren kann, der fröhlich wie ein kleiner Junge die Nationalflagge herumschwenkt und „das Volk liebt mir“ sagt. Oder so ähnlich.



Schuld an dem Schreck zwischendurch war das Foto. Das Foto von den Millionen, die Lulas Parteigenossen für das Dossier gegen Serra bezahlen wollten. Erinnert sich noch jemand daran? Wie ein Mantra hat Gegner Alckmin bei jedem Treffen mit Lula danach immer wieder gefragt: „Und wo kommt das Geld her?“ Das war auf die Dauer fast ein bißchen nervig. Die Frage bleibt unbeantwortet. Lula-Gegner behaupten: Weil die Untersuchungen verschleppt wurden, um die Stichwahl nicht zu stören.



Jetzt ist nämlich alles zu spät und egal. Falls irgendwann doch noch bewiesen werden sollte, daß Lula in den Deal verwickelt war, dann wäre das ein Wahlverbrechen und das wäre theoretisch Grund genug für ein Impeachment. Aber ein Impeachment muß irgendwer beantragen. Und der Präsident des zuständigen Gerichts hat jetzt schon erklärt, er werde nicht gegen den Willen von Millionen von Wählern handeln. Und wenn Marco Aurélio keinen Handlungsbedarf sieht, falls Lula schuldig sein sollte, wer denn sonst sollte ein Impeachment beantragen? Wo doch das Volk selbst dauernd ein bißchen schummelt, ja schummeln muss, weil das Überleben so schwer ist?



Die Brasilianer sind Weltmeister im Schummeln. Früher hießen besonders begabte Schummler hierzulande „malandro“ – und das war ganz eindeutig ein Kompliment. Als „jeitinho“ ist die brasilianische Begabung nahezu weltweit bekannt, hart am Gesetz vorbei Lösungen zu finden, wenn alles aussichtslos scheint. Und in seiner endlosen Großzügigkeit scheint das brasilianische Volk seinen Regenten auch Schummeln im großen Stil zu vergeben. Solange sie aus dem Volk sind. Aus Marzahn eben.

Freitag, 27. Oktober 2006

Wasser gegen Zuckerrohrschnaps - Kandidaten im Vergleich

Einen Moment lang haben ja viele wirklich einen Schreck bekommen. Herausforderer Alckmin war eigentlich nur ein Strohmann. Ein Verlierer-Kandidat: ein blasser Brillenträger aus Sao Paulo, im Riesenland nahezu unbekannt, mit einem beinahe peinlichen Hinterwäldler-Akzent und einer, der definitiv nicht zur Clique gehört. Ernstzunehmende Kandidaten wären die Lieblinge gewesen: José Serra, Ex-Gesundheitsminister und Ex-Präsidentschaftskandidat, der 2002 gegen Lula peinlich verloren hat. Und Aécio Neves, Gouverneur von Minas Gerais, ein frischer junger Kandidat, der bis 2010 noch weiter aufgebaut werden kann. Alckmin sollte sich verschleißen, verlieren und die anderen schonen. So war es geplant, und so hat es ganz Brasilien hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand kommentiert. Niemand hatte mit der Selbst-Zerstörungskraft der Arbeiterpartei PT gerechnet. Die hat in letzter Sekunde noch so viel Skandal geschafft, daß der Hinterwäldler Alckmin plötzlich echte Chancen bekam, die Wahl zu gewinnen! Oh Schreck!

Schreck auch bei den Kolumnisten: Über Lula herzuziehen ist mindestens so einfach, wie es damals einfach war, Kohl-Witze zu erfinden! Lula ist an sich schon eine Karikatur - ohne daß irgendein Charakterzug übertrieben werden müßte. Er weint gerne bei öffentlichen Reden, produziert Stilblüten am laufenden Band und wird mit jedem weiteren Regierungstag größenwahnsinniger (Kostprobe: „Niemand hat seit der Entstehung Brasiliens so viel für die arme Bevölkerung des Nordostens getan, wie wir“). Lula trinkt gerne mal einen Zuckerrohrschnaps über den Durst, läßt sich die Falten mit Botox flach spritzen und vertut sich gelegentlich in der portugiesischen Grammatik.

Dagegen ist der Neue entsetzlich langweilig. Er spricht korrekt, ist noch nie weinend gesichtet worden und zeigt uneitel sein dünnes Haar und Falten. Und auf Wahlerfolge stößt er mit Wasser an! Man stelle sich vor: Mit Wasser!

Der erste Wahlgang ist lange her, der Dossierskandal fast vergessen und ein Wassertrinker nun wirklich suspekt. Resultat: Hier im Nordosten-Bundesland Pernambuco hat Lula in den letzten Umfragen 76 Prozent, Alckmin 22. Im ganzen Land steht es 63 gegen 36 (der Rest sind Enthaltungen und ungültige Stimmen). Die Gefahr des Überraschungssiegers scheint gebannt. Die Kolumnisten atmen auf. Voraussichtlich können sie nach dem Wahlsonntag am 29. Oktober fröhlich weiter lästern.

Mittwoch, 25. Oktober 2006

Lecker Mädchen

Die Bühne stand schon seit ein paar Tagen da. Aus Holz zusammengezimmert, mitten am Strand und nicht gerade aufsehenerregend. Aber diese Bühne bedeutet die Welt, die große Chance, den Ruhm! „Garota-verao“ steht oben drüber. Und Garota-verao, „Mädchen des Sommers“ wollen sie alle werden. Jedes Jahr schreiben sich Dutzende mutige Mädels aus den ärmeren Vierteln zum Wettbewerb ein. Immerhin können sie an einem einzigen Tag 500 Reais (knapp 200 Euro und mehr als ein brasilianischer Mindestlohn), ein Wochenende in einem Strandhotel und professionelle Aufnahmen mit einem Fotografen gewinnen. Und der Ruhm! Bedingung ist: über sechzehn und unter 22 müssen sie sein, ansonsten steht den Träumen nichts im Weg.

Die Sonne prallt, der Schweiß perlt, das Bier fließt aus Dosen lauwarm in geöffnete Münder. Die Zuschauer sind zu 99 Prozent männlich, jung und um ein Uhr mittags längst nicht mehr in der Lage, torkelfrei über eine Bühne zu defilieren. Zum Glück müssen sie auch nur ihr Fotohandy schußbereit halten. So von untern nach oben bieten sich faszinierende Einblicke, vor allem, wenn die Mädels das hauchzarte Tuch abstreifen, das bis dahin noch mehr als der Bikini verhüllt. „Gostosa“ rufen die Zuschauer. „Gostosa“ kann man nur auf kölsch übersetzen, dann heisst es „lecker Mädchen“.

Das ist eigentlich das Tollste an diesem Wettbewerb. Zwei Dutzend pummelige brasilianische Teenies fühlen sich mindestens so lecker wie Angelina Jolie. Egal, ob sie nur 1,50 groß sind, ob sich an der Hüfte Rettungsringe rollen, ob die Beine stämmig, x-förmig oder eher kurz geraten sind. Keine Minderwertigkeitskomplexe. Keine Vertuschungsstrategien: Mutig halten sie hin, was sie haben. Und die Zuschauer geben ihnen Recht: Je mehr Rundungen, desto lauter werden die „Gostosa“-Rufe von unten. Am Wichtigsten sind den Brasilianern weder Beine noch Brüste, Top-Attribut des lecker Mädchens ist ein knackiger Hintern, oder jedenfalls ein ausladender, schwingender, üppiger ... Also wird oben geschwungen und unten geblitzt bis die Handyakkus leer sind.

Als die Sonne langsam an Kraft verliert ist es soweit: die Gewinnerin ist auserwählt. Sie strahlt stolz und dreht sich noch einmal in Zeitlupe, um all ihre Vorteile zur Geltung zu bringen. Jetzt wird sie berühmt. Nein, das ist keine Illusion, Nein, es sind auch keine Talentscouts großer Modelagenturen hier in Gaibu. Aber irgendwann in den nächsten Tagen wird das Sommer-Mädchen auf einer Doppelseite in der Lokalzeitung „Gazeta do Cabo“ abgebildet. Und diese Doppelseite hat traditionell ein sehr langes Leben. An den Wänden von Kfz-Werkstätten, Getränkelagern, Tankstellen.

Sonntag, 22. Oktober 2006

Irgendwen muss ich ja wählen

Sie sitzen auf den Treppenstufen vor der Kfz-Werkstatt im Schatten und reden über Politik. Mit mürrischen Gesichtern, als habe ihnen jemand zum Mittagessen nur Aufgewärmtes serviert. Der eine, nennen wir ihn Joao, trägt Karohemd und Baseballkappe und wird Lula wählen. Der andere, nennen wir ihn Caetano, trägt Jeans und Brille und wird Alckmin wählen.


Schön klischeegemäß ist der Alckmin-Wähler weiß und der Lula-Wähler schwarz.


Caetano: Na, bekommst du die Bolsa Familia* oder hast du einen der 108.000 Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst ergattert, die Lula geschaffen hat?

Joao: Weder noch.

Caetano: Warum wählst du denn dann Lula? Was tut der schon für dich?

Joao (überlegt): Ich mag den irgendwie.

Pause.

Joao: Der kommt hier vorbei und besucht uns im Nordosten! Der ist doch beinahe jede Woche hier in Brasilia Teimosa** und sieht die Realität! Alckmin sitzt da in Sao Paulo im Luxusviertel Morumbí und weiß nicht mal, daß wir existieren!

Caetano: Der Alckmin hat Sao Paulo wenigstens vorangebracht in den letzten Jahren, da geht es der Wirtschaft besser als hier.

Joao: Ach, der Alckmin macht nur großen Ausverkauf! Hast du nicht gehört, was Lula letztens im Fernsehen gesagt hat? „Der Alckmin verkauft alles, der wird sogar noch mein Staatsflugzeug privatisieren!“

Caetano: Aber der ist vielleicht nicht so korrupt. Bei dem kann man noch hoffen.

Joao: Wenn die im Fernsehen auf den Lula losgehen, und von der ganzen Korruption reden, dann stell ich immer ab. Ich meine, ich bin da wie der betrogene Ehemann, der die Augen zumacht, und so tut als sei alles nicht wahr.

Caetano: Du wählst den trotzdem? Obwohl du weißt, daß die ganzen Korruptionsvorwürfe stimmen?

Joao: Irgendwen muß ich ja wählen.



* Elf Millionen Familien beziehen die staatliche Hilfe zum Lebensunterhalt „Bolsa Familia“ – böse Stimmen behaupten, Lula gewinne die Wahl nur wegen der Bolsa Familia
** Brasilia Teimosa ist ein Armenviertel von Recife

Donnerstag, 19. Oktober 2006

Wenn das Maniokmehl anrollt - Sonntag am Strand

Der Strand gehört allen. Leider. Denn sonntags kommt das Maniokmehl herangerollt. „Farofa“ ist die billigste Sättigungsbeilage, der die Brasilianer boshaft nachsagen, daß sie das Gehirnwachstum hemmt. Und „Farofa“ heißen auch die mindestens finanziell Minderbemittelten, die am Sonntag den Strand belagern.

Die Farofa ist eine häßliche Nebenerscheinung der Demokratie. Dicke, blasse Hinterwäldler werden zu Dutzenden in altersschwache billig angemietete Busse gepackt und Hunderte von Kilometern an den Strand gekarrt. Dort quellen sie aus den Gefährten wie Eiter und überschwemmen am liebsten unschuldige Strandbarbesitzer. Sie bestellen im Schnitt eine Dose Cola für sieben Leute, denn in ihren Kühltaschen haben sie literweise Rum und auch reichlich Cola dabei. Nicht zu reden von Salzgebäck, Vorgebratenem und ihrem Namensgeber, dem Maniokmehl. Ich erfinde hier mal schnell eine Statistik und behaupte, daß so ein Farofeiro seinen Strandausflug locker für weniger als zehn Euro hinbekommt, inklusive stundenlange Busanfahrt. Wenn die Farofa nach einem gelungenen Strandtag spätnachmittags sturztrunken wieder abrollt, bleibt nur Müll zurück. Verdient hat bestenfalls der Busfahrer.

In vielen Strandorten sind deswegen Ausflugsbusse verboten. Die Busladungen Hinterwäldler müssen in sicherem Abstand zum Strand parken und die letzten Kilometer zu Fuss zurücklegen. Der Hintergedanke: So weit können sie ihre Picknicktaschen voller Rum und Cola und vorgebratenem Trockenfleisch und Maniokmehl nicht tragen.

Am Sonntag brüllt es plötzlich rasend schief und scheppernd in meine Träume. Das ist Pagode – die billigste Variante des Samba, bei der mehrere, meist bedudelte Jungs auf den „cavaquinho“ genannten Mini-Gitarren rumklimpern und sich nicht weiter drum scheren, wenn dabei eine oder mehrere Saiten reißen. Dazu jaulen sie bewundernswert atonal schnulzige Texte. Diese Ton-Untermalung dient den ebenfalls bedudelten jüngeren Vertretern der Farofa als Vorwand, einen Paarungstanz aufzuführen, bei dem die Beteiligten möglichst provokant ihre speckberollten Hüften schwenken und dabei die Bäuche und andere Körperteile aneinander reiben. Genau so heißt das auch: „Rala-bucho“, übersetzt etwa: Bauch-Reiben. Pagode mit Rala-Bucho ist sonntags ziemlich normal. Auffällig ist an diesem Pagode nur, daß die Sonne gerade ihre allerersten Strahlen schüchtern über den Horizont schickt. Es ist fünf Uhr, noch nicht richtig hell, und der Partylärm kommt vom Strand.

Da sage noch mal einer, zu viel Maniokmehl mache dumm. Blödsinn. Diese Farofa ist verdammt schlau. Am Strand bietet sich mir eine geradezu surrealistische Szene. Wie ein Stelldichein zu einem Anti-Model-Wettbewerb. Frauen, Männer, Mödchen, Jungs, Kinder, alle, alle, alle übergewichtig und in knappe Strandfetzen gezwängt, tummeln sich im Sand, wie in einem Ameisenhaufen, in dem gerade jemand mit dem Stock herumgewühlt hat. Hunderte sind das. Sie schwenken Plastikbecher und Flaschen und futtern dazu irgend etwas, was aus der Entfernung nicht zu erkennen ist. Manche tanzen tatsächlich. Sie sind in alten klobigen Toyota-Jeeps gekommen, und die parken einfach mitten auf dem Strand und haben ihre Musik-Anlagen bis zum Anschlag aufgedreht. Niemand hindert sie daran. Weil um fünf Uhr morgens noch keine Polizisten unterwegs sind, um die Farofa-Busse aufzuhalten. Hoffentlich sagen die erfolgreichen Invasoren das nicht allen anderen Farofeiros im Land weiter.

Freitag, 13. Oktober 2006

Heute kaufen, nächstes Jahr bezahlen

Die brasilianische Wirtschaft funktioniert gut, steht in allen Zeitungen. Eigentlich kann das nicht sein. Denn die Brasilianer können nicht rechnen. Oder nicht denken. Jedenfalls nicht in die Zukunft.


Letztens habe ich in einem Plattenladen CDs angeguckt. Die sind hier genau so teuer, wie in Deutschland, nur verdienen die Menschen weniger. Deswegen steht Brasilien auch mit an der Spitze bei der Herstellung von Raubkopien. Sogar der Präsident, der ja nicht so richtig schlecht verdient, kauft sich gerne raubkopierte DVDs. Als ich den Plattenladen verlassen wollte, ohne etwas gekauft zu haben, rief mir der Verkäufer in einem letzten Überzeugungsversuch nach: „Hey, wenn du jetzt kaufst, fängst du erst 2007 an zu bezahlen!“


Kurz darauf zücke ich an der Supermarktkasse die Kreditkarte, da fragt die Kassiererin: „Wollen Sie sofort zahlen oder in Raten?“ So geht das nämlich hier in Brasilien. Heute genießen und nicht an morgen denken. Als mir ein Paar Schuhe nach ausgiebigem Anprobieren doch zu teuer ist, zeigt sich die Verkäuferin höchst verwundert: „Den Preis kann man aber in 12 Raten aufteilen!“ Ja und? Die zwölf Raten muß ich trotzdem bezahlen, denke ich. Das ist deutsches Denken. Die Brasilianer leben anders. Sie konsumieren ganz gelassen im Hier und Jetzt. Schmeichelnde Worte und zwingende Fakten überzeugen früher oder später jeden. Wer auf Pump kaufen will, aber keine Kreditkarte hat, läßt sich bei den großen Läden eine Kundenkarte ausstellen. Die bieten noch längere Rückzahlfristen, noch niedrigere Zinsen, noch mehr Ware, noch mehr Schulden. Um eine solche Kundenkarte zu bekommen, braucht man eine Art Leumund. Der muß weder persönlich anwesend sein, noch irgendwie für den Beleumundeten haften. Er muß nur eine Festnetz--Telefonnummer haben.


Weil ich eine solche habe, bekomme ich gelegentlich seltsame Anrufe. „Kennen Sie Milton Santos?“, fragte mich kürzlich eine sanfte Frauenstimme. Kennen ist leicht übertrieben. Milton ist der Bekannte eines Bekannten, den ich letztens auf einem Fest getroffen habe. Kann mich nicht erinnern, Milton meine Telefonnummer gegeben zu haben. „Oh, können Sie ihm bitte ausrichten, er möge sich bei der Calca Calcados melden? Er hat seine Ratenzahlungen bei uns etwas vernachlässigt,“ erklärt die Frauenstimme. Ob die das darf? So einfach die Finanzengpässe von Milton Santos in die Welt hinaus posaunen? Oder ist er selbst schuld, weil er meine Nummer angegeben hat, obwohl wir uns nur flüchtig kennen?


Meine Bekannte Virginia ruft mich lieber selbst an: „Paß auf, wenn dich jemand von der Millora anruft, dann sagst du denen, daß ich als Kellnerin arbeite und 400 Reais im Monat verdiene, ja?“ Ok. Mache ich. Beim ersten Mal hatte ich noch Gewissensbisse. Ich habe nämlich keine Ahnung, ob Virginia als Kellnerin arbeitet. Ich weiß nur, daß sie mir nie das Geld zurückgezahlt hat, das ich ihr vor zwei Jahren geliehen habe. Aber weder die Millora, noch irgendein anderer Laden, in dem Virginia Kundenkarten besitzt, hat mich je angerufen.


Ich bin nach sechs Jahren immer noch zurückhaltend gegenüber den ganzen Ratengeschäften. Das einzige, was ich mir zugestehe, ist ein Konto“ im Kramladen. Das heißt, ich kann dort jederzeit mal schnell einen Liter Milch einpacken, auch wenn ich grade kein Geld in der Tasche habe. Besitzer Dimaz schreibt alles in ein kleines Schulheft und ich zahle so ungefähr einmal pro Woche. „Ein Konto“ kann man auch beim Gemüsehändler, an der Tankstelle oder im Restaurant haben. Es kostet keine Zinsen und schadet eigentlich nur dem Ladenbesitzer. Und damit der brasilianischen Wirtschaft. Oder? Während die Regierung die Staatsschulden an den IMF vorzeitig zurückgezahlt hat, treiben Banken, Unternehmer und Illegale das Volk immer weiter in den Konsumrausch auf Pump.


Manche Brasilianer gehen zum Geldhai, um ihre dringenden Wünsche zu befriedigen. Sie müssen entweder verzweifelt oder dumm sein: Der Geldhai gibt zwar Bares auf die Hand heraus ohne viel zu fragen, aber dafür treibt er später mindestens zehn Prozent Zinsen ein. Jeden Monat. Inzwischen vergeben manche Banken Kleinkredite an Menschen ohne Einkommensnachweis, und Kreditkarten für Arme mit Kreditlimits von bis zu 200 Euro werden auch immer beliebter. Schwieriger zu bekommen, sind altmodische Scheckhefte. Die sind hier äußerst begehrt, weil man sie vordatieren kann. Als das Vordatieren in Mode kam, ging es erst um maximal 30 Tage, bis zum nächsten Lohn eben. Das reichte irgendwann nicht mehr. Inzwischen wetteifern die Unternehmen darum, wie viele Tage man bei ihnen vordatieren darf. Es gibt Läden, die akzeptieren Schecks, die auf ein Datum in 120 Tagen ausgestellt sind. Das sind vier Monate. Wenn der Kunde Glück hat, überlebt der Laden solange gar nicht. Aber soweit denken die Ladenbesitzer wohl nicht in die Zukunft.

Mittwoch, 11. Oktober 2006

Handelsreisende mit Handkarren

Manchmal ist ja Brasilien noch Mittelalter. Bekannte von mir wohnen auf einer kleinen Farm auf dem Land. Auf dem Land heißt in diesem Fall: rund drei Kilometer vom nächsten Dorf und 25 von der nächsten Stadt entfernt. Und Mittelalter bedeutet nicht etwa, daß es auf dem „Sitio“ (so heißen hier kleine Farmen) keinen Strom oder kein fließend Wasser gäbe. Gibt es alles.


Mittelalter bedeutet, daß da heute vor dem großen Holztor ein Handkarren parkt. Mit dem aus alten Autoreifen und diversem Gestänge zusammengebastelten Gefährt sind zwei Handlungsreisende unterwegs. Sie ziehen und schieben ihren mobilen Laden über löcherige Lehm- und Sandwege, in Gegenden, in denen nur alle paar hundert Meter mal ein Haus steht, in denen nie ein Bus vorbei kommt und nur wenige ein Fahrrad besitzen. Der Handkarren ersetzt den modernen Handlungsreisenden den Esel. Das ist ein entscheidender Fortschritt, weil der Karren nicht frisst.


Das Warenangebot hat sich natürlich auch erweitert: Dampfkochtöpfe haben die Jungs dabei, Plastikwannen und –eimer in allen Größen, Geschirrhandtücher, Bettlaken, Hängematten, Fußabtreter, Geschirrsets und Besteckkästen, Kehrschaufeln und Schrubber. Es ist erstaunlich, was auf so einen Karren paßt und noch erstaunlicher, daß auf der holperigen Reise anscheinend nichts verloren geht oder zerbricht.


Gerade hebt einer der Verkäufer einen rotbraunen Plastik-Gartenstuhl über das Tor des Sitio. „Nein, ich will nichts kaufen“, beteuert Gilvan, schüttelt zur Bekräftigung den Kopf, und hört trotzdem zu, was der Verkäufer zu sagen hat. Hier auf dem Land kommt nicht so oft Besuch. Also plaudert Gilvan ein bißchen mit den beiden Handlungsreisenden, die ja schließlich rumkommen in der Welt. Lässt sich erklären, was in der Stadt so passiert, vom letzten Autounfall bis zum neusten Tanzschuppen und erfährt außerdem, daß die Gartenstühle nahezu unzerstörbar sind, daß sie Regen und Sonne vertragen – und vor allem dann gut ankommen, wenn Gilvan mal Damen einen Sitzplatz anbieten will.


Nach einer halben Stunde angeregten Gesprächs öffnet Gilvan das Tor, trägt zwei rotbraune Gartenstühle auf seine Terrasse, hängt eine schwarzweißgemusterte Hängematte an die bisher nutzlosen Haken und bietet den Besuchern ein Glas Wasser an. Das Wasser ist lauwarm, denn einen Kühlschrank besitzt Gilvan nicht. Eigentlich muß er sein Geld zusammen halten, hat er erst letztens gesagt. Geld wechselt auch nicht den Besitzer in dieser Transaktion. Bevor die beiden schwitzenden Händler ihren Karren weiterschieben, unterschreibt Gilvan einen rosa Zettel, das ist alles.


„Ich muß erst nächsten Monat bezahlen“, erklärt er stolz und schaukelt probeweise in seiner Hängematte. 75 Reais hat sie gekostet. Plus 35 für jeden der Stühle, macht insgesamt 145 Reais, umgerechnet gut 55 Euro, das ist mehr als ein Drittel des Monatslohns eines Landarbeiters und vermutlich ungefähr doppelt so viel, wie die Sachen im Laden gekostet hätten.


Aber solche Rechnungen macht Gilvan nicht. Machen die meisten Landbewohner nicht. Viele von ihnen gehören zu den zehn Prozent funktionaler Analphabeten Brasiliens: Sie sind nur ein paar Jahre zur Schule gegangen und haben bald wieder vergessen, was sie dort gelernt haben. Beim Ratenkauf - sogar in normalen Geschäften - zahlen Brasilianer manchmal mehr als 200 Prozent Zinsen. Rechnet ja keiner nach.


Ich frage mich, ob die Jungs, wenn sie dann in einem Monat wieder den Sandweg entlang schwitzen, all ihre Schuldner wiederfinden. Ob die sich nicht einfach im Haus verstecken oder zufällig kein Geld parat haben, wenn es ans Zahlen geht. „In den Städten ist das so“, gibt der Händler zu. „aber auf dem Land gilt noch das Ehrenwort. Schlimmstenfalls bieten uns die Leute ein paar Hühner zum Tausch an, wenn sie nicht genug Geld haben“. Das ist wohl auch seit dem Mittelalter so.

Montag, 9. Oktober 2006

"Scheiße Lula"

Heute hat der Präsident beim TV-Duell mit seinem Herausforderer Alckmin nicht blau gemacht. Das Klassenziel der Wiederwahl ist ja auch noch nicht erreicht. Immerhin sagten ihm gestern die Umfragen 50 Prozent voraus - gegen schlappe 43 für Alckmin. Vielleicht hat Lula deswegen leichthin versprochen, er werde heute abend über alles reden, was der andere wissen wolle, über Korruption, über Ethik, über Sicherheit...

Über Korruption muss er dann wirklich reden. Macht aber nix, der Mann ist vorbereitet. Fünf Minister aus seiner Regierung mussten wegen Korruptionsvorwürfen zurücktreten? Ein gutes Zeichen! Denn „die anderen Regierungen haben den Dreck immer nur unter den Teppich gekehrt“. Er hingegen habe schon als kleiner Junge bei seiner Mama zuhause das Sofa hochgehoben, um auch darunter sauber zu machen.

Im Dreck unter dem Sofa wühlen dann beide Kandidaten gekonnt herum. Sei es, dass Lula Alckmin für die Gewaltexzesse der kriminellen Vereinigung PCC in Sao Paulo verantwortlich macht oder dass Alckmin Lula "schwach" nennt, weil der sich nicht energisch gegen den Nationalisierungsspräsident von Bolivien gestellt hat, um die brasilianische Petrobras zu verteidigen.

Irgendwann schon kurz vor Schluss haben es die beiden Kandidaten geschafft, sich gegenseitig als Lügner zu beschimpfen - aber keiner von beiden hat über sein Regierungsprogramm gesprochen.

Ob das noch kommt, kann ich nicht sagen, denn just, als Alckmin den Präsidenten auf die miserable Energielage des Landes anspricht, ist es hier ganz schwarz geworden. Allgemeiner Stromausfall. Der erste Kommentar zum strombedingten Ende der Debatte kommt irgendwo da draußen aus der Nacht: „Scheiße Lula“ brüllt es.

Mittwoch, 4. Oktober 2006

Der Segen des kurzen Gedächtnisses

Das Schöne an den Brasilianern ist, daß sie so gut vergeben und vergessen können. Sie sind absolut nicht nachtragend. Vielleicht haben sie auch einfach nur ein schlechtes Gedächtnis. Ein brasilianisches Sprichwort sagt, „wer keine Seiten umblättern will, ist es nicht wert, das Buch zu lesen.“ Die Brasilianer blättern fleißig um. Manchmal vergessen sie darüber sogar, das Buch zu lesen.

Ein besonders schönes Beispiel für das schwache Gedächtnis – oder für das großzügige Vergeben und Vergessen - des brasilianischen Volkes ist die Liste der Kandidaten, die soeben in den Senat und ins Abgeordnetenhaus gewählt wurden. Jeder zehnte der Abgeordneten ist irgendwelcher Unregelmäßigkeiten verdächtig, gegen 35 der 513 laufen Gerichtsverfahren – und mancher Hauptdarsteller der jüngsten Skandale ist vertreten: Die Brasilianer haben Ex-Minister Palocci gewählt, der wegen Korruptionsvorwürfen vor kurzem zurücktreten mußte. Sie haben den Ex-Chef der Arbeiterpartei PT gewählt, der ebenfalls wegen Korruptionsvorwürfen aus dem Amt entlassen wurde. Und sie haben den aktuellen PT-Parteichef gewählt, den Lula wenige Tage vor der Wahl als „Bandit“ beschimpft hat, weil er in den Dossier-Skandal verwickelt ist.

Mit überwältigender Mehrheit haben sie übrigens auch Fernando Collor in den Senat gewählt. Genau, den Ex-Präsidenten. Der 1992 wegen Korruptionsvorwürfen durch ein Impeachment abgesetzt wurde. Aber nach all den Jahren ist Collor ein anderer Mensch und kehrt „mit reinem Gewissen und gewaschener Seele“ in die Hauptstadt Brasilia zurück, wie er sagt.

Das ist die andere Seite des Vergebens und Vergessens: Mit Schuldgefühlen plagen sich brasilianische Politiker auch nicht lange. Präsident Lula kommentierte seine Niederlage im ersten Wahlgang wie folgt: „Jetzt werden wir einen gerechteren und ehrlicheren Wahlkampf haben. Und der zweite Wahlgang bietet auch bessere Voraussetzungen für die Debatte.“ Debatte? Hatte der Präsiden da nicht blau gemacht? Zum nächsten TV-Duell wird er wohl hingehen müssen. Sonst erinnert sich womöglich irgend jemand daran, was Herausforderer Alckmin gestern gesagt hat: „Lula hat seine Chance gehabt, und er hat sie vertan.“

Montag, 2. Oktober 2006

Wenn das brasilianische Herz schmerzt

„Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, sagen die Deutschen. Bei den Brasilianern heißt das „was die Augen nicht sehen, spürt das Herz nicht“.

Aber jetzt haben es die Brasilianer gesehen. Das Geld. Dass Lula stark in Verdacht stand, hinter dem Dossier-Kauf* zu stecken, liess die Wähler unbeeindruckt. Es schien, als würden sie Lula trotzdem gleich im ersten Wahlgang im Amt bestätigen. So sicher war sich der Mann seines Siegs noch vor drei Tagen, daß er nicht mal zur TV-Globo-Debatte ging. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ein Polizist ihm einen Strich durch die Rechnung machen würde. Ein kleiner Militärpolizist wollte dem großen Präsidenten schaden, und spielte die Fotos der Presse zu. Bilder von Bündeln von Banknoten. Öffentliche Gelder, mit denen das Dossier bezahlt werden sollte. Das tut dem brasilianischen Herz weh.

Auch dem Präsidenten schmerzt jetzt das Herz: Statt eines triumphalen Siegs im ersten Wahlgang, hat er nicht mal 50 Prozent der Stimmen bekommen. Es kommt also zur Stichwahl. Gegner Alckmin und der Verein „Für ein würdiges Brasilien“ wollten Lulas Kandidatur am liebsten noch vor der Wahl wegen des Dossier-Wahlverbrechens kippen. Das hat nicht geklappt – aber Alckmin hat über 40 Prozent geschafft und zeigt sich zuversichtlich: „Die Ethik wird über die Korruption siegen“, sagt er.

Abwarten. Bis zur Stichwahl dauert es mehrere Wochen. Bis dahin könnte womöglich noch ein neuer Skandal auftauchen. Oder die Untersuchungen über den Dossier-Fall könnten immer noch andauern. Oder die Wähler könnten das Foto bis dahin vergessen haben. Denn so lange schmerzt den Brasilianern das Herz auch wieder nicht. Zwei Drittel der Wahlberechtigten erinnern sich jetzt schon nicht mehr, für wen sie bei den Kommunalwahlen vor zwei Jahren gestimmt haben.

(*das sogenannte Serra-Dossier belastet José Serra, den ehemaligen Gesundheitsminister und frisch gewähltem Gouverneur von Sao Paulo, dem reichsten Bundesstaat des Landes: angeblich soll er im Gesundheitswesen in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Für die Unterlagen wollten PT-Mitglieder 1,7 Millionen Reais bezahlen)

Samstag, 30. September 2006

Die schönsten Pummelchen der Welt

Neben mir sitzt eine Dame mit blutunterlaufenen Augen, rotbraun gefärbtem schütterem Haar, reichlich Altersflecken auf der Hand – und der zarten Gesichtshaut einer 15Jährigen. Ihre Nachbarin hat was von Michael Jackson auf Brasilianisch: winzige Stupsnase, bleiche Haut, seltsamer Haaransatz, leicht schräge Augen. Ich sitze mit meiner Freundin im Wartezimmer von Henylda, einer der beliebtesten Schönheitschirurginnen Recifes. Henylda macht alles, von der Mini-Lipo bis zur Nasenkorrektur.

Beth will sich ihre Stirnfalten mit Botox wegspritzen lassen und fragt gleich mal in die Runde, ob jemand Erfahrung mit Botox hat. Und schon kommen alle ins Gespräch. Miss Michael Jackson will sich die Wangen liften lassen. Die hängen zwar gar nicht, aber Miss Jackson wohnt in den USA und da ist alles viel teurer. Hier sagt sie ihrem Mann einfach, sie gehe zum Friseur und läßt sich schnell ein paar Goldfäden in die Wangen ziehen. Wenn die dann irgendwann wirklich zu hängen drohen, kann Miss Jackson die einfach immer nachspannen lassen, praktisch, oder? Eigentlich ist Miss Jackson richtig sympathisch. Und das Lifting wird ihre erste Schönheits-OP sein – ihre Ähnlichkeit mit dem psychopathischen Popstar hat sie einem Verkehrsunfall zu verdanken. Klischees stimmen eben doch nicht immer.

Brasilianerinnen sind schön. Auch wenn sie übergewichtig sind. Auch wenn manche zu kurze Beine haben. Oder blutunterlaufene Augen. Die bekommt man, wenn man sich die Tränensäcke wegschneiden läßt, erklärt die Dame mit der sonst so rosigen Gesichtshaut. Geht aber bald wieder weg. Und Botox ist gar kein Problem, das dauert nur fünf Minuten, beteuert eine attraktive Rothaarige undefinierbaren Alters, die neben ihrer pummeligen Freundin sitzt. Was machen denn die beiden hier? „Ich mache eine Lipo am Bauch“, sagt die Pummelige, „der stört mich zwar nicht wirklich, aber irgendwie ist es blöd, größere Kleidergrößen zu brauchen als meine Mutter“. „Ich hab schon so ziemlich alles gemacht“, kichert die Mutter gutgelaunt. „Zuerst Botox, dann die Fältchen an der Oberlippe aufpolstern lassen, dann Lipo...“ Heute begleitet sie nur ihre Tochter. Aber das mit den Tränensäcken, das wäre natürlich eine Überlegung wert. Überhaupt sind hier alle ganz locker. Nicht so, als müßten sie traumatische Defekte an ihrem Körper beseitigen.

Müssen sie auch nicht. Die Brasilianerinnen haben nämlich ein ganz anderes Verhältnis zu ihrem Körper als wir Europäerinnen. Erstens können sie ihn nicht über die Hälfte des Jahres verstecken, weil Wintertemperaturen von 28 Grad keine dicken Klamotten rechtfertigen. Zweitens wollen sie ihn gar nicht verstecken. Egal, ob sie aussehen wie Gisele Bündchen, oder doch eher wie Maria XXL. Die ersten XXL-Marias in knappen Miniröcken und bauchfreien Shirts habe ich noch für ihren Mut bewundert. Mit der Zeit habe ich gemerkt, daß sie gar keinen Mut brauchen. Eine Bauchbesitzerin kann – ganz besonders hier im Nordosten - mehr Erfolg haben als eine Bauchlose, Vor allem, wer seine „Gostosura“* mit dem rechten Hüftschwung präsentiert, kann sich bewundernder männlicher Blicke sicher sein. Aus europäischer Sicht verunsichert das erst mal. Gibt es hier keine Diäten? Muß hier niemand kaschierende Flatterkleidchen über die Fülle hüllen? Hautenge Tops und Lycrajeans für alle? Ist das denn ästhetisch? Und wozu dann noch Schönheitsoperationen?

Meine Antworten nach ausgiebiger Feldforschung:

- Lycra für alle? Ja! Aus hautengen Tops quellende Üppigkeit findet viele Fans.

- Diäten? Machen manche Mädels trotzdem – um sie spätestens bei der nächsten Strandparty konsequent abzubrechen. Das ist erstens sympathisch und zweitens garantiert gesünder für Körper und Geist.

- Flatterkleidchen als Versteck? Nicht mal in der Körperkult-Hauptstadt Rio sind alle Frauen elfengleiche Models. Die anderen tragen auch Tangas und sonnen sich auch an der Copacabana.

- Schönheitsoperationen? Sind hierzulande vermutlich eher mit einem Frisörbesuch zu vergleichen als mit tiefenpsychologisch wirksamen Persönlichkeitsveränderungen: Schauspielerin Sonia Braga hat sich gerade generalüberholen lassen und präsentiert das Ergebnis stolz in der aktuellen Telenovela, nach dem Motto: „Guckt mal, wie hübsch das geworden ist!“
Das brasilianische Selbstbewußtsein ist übrigens so ansteckend, daß schon wenige Wochen Brasilien reichen, um sich den ersten Minirock zu kaufen. Nach spätestens einem halben Jahr ist der erste einheimische Bikini fällig – neben dem alle europäischen Modelle zwingend so aussehen, wie aus Urgroßmutters Klamottenkiste. Keine Ahnung, wie lange es dauert, den Hüftschwung zu erlernen. Der die Brasilianerinnen zu den schönsten Pummelchen der Welt macht. Selbst wenn sie keine Pummelchen sind. Aber das ist ja zum Glück Nebensache.



* Gostosura bedeutet so etwas wie lecker Rundungen

Freitag, 29. September 2006

Der Präsident macht blau

Der Stuhl ist leer geblieben. Der Präsident hat blau gemacht. Ist einfach nicht gekommen. Hat sich der großen Debatte der vier Präsidentschaftskandidaten verweigert. Und das im allerletzten Moment, drei Stunden vor Beginn der TV-Runde. Seine Marketingspezialisten hatten vom Live-Auftritt abgeraten, der bringe keine Wählerstimmen. Das hat Lula in seinem Absagebrief an die TV-Macher natürlich nicht so geschrieben. Statt dessen gab er sich moralisch entrüstet: Er nehme nicht teil, weil er sich sonst in eine Arena des unfairen Kampfs begeben würde, behauptete der Präsident. Dabei ist die TV-Globo-Debatte so regelstreng wie ein Ausflug ins Nonnenkloster, persönliche Beleidigungen und Angriffe auf die Ehre sind sowieso verboten.

Ihre fiesen Fragen mußten die anwesenden Kandidaten nun an den leeren Stuhl des Abwesenden stellen. Zum Beispiel die, ob er im Falle seiner Wiederwahl zurücktreten würde, falls sich der Verdacht bestätigt, daß er mit öffentlichen Geldern das Dossier gegen Serra kaufen wollte. Minderheits-Kandidat Cristovam Buarque nannte Lulas Abwesenheit gar „eine Form der Korruption“. Aber Korruption scheint das Volk nicht zu beeindrucken. Nie war so viel Korruption im Land wie während Lulas Mandat. Noch gestern, vor der Debatte meldete die Meinungsforscher 53 Prozent der Stimmen für Lula.

Nach der Debatte sagen 40 Prozent der Teilnehmer einer Internetumfrage, sie würden nicht wählen, wenn sie nicht müssen. Aber Wähler dürfen ja nicht blau machen in Brasilien.

Donnerstag, 28. September 2006

Der Wahlkampf gehört verboten

Eigentlich hätten sie den Wahlkampf komplett verbieten können. Statt dessen kommen die Verbote einzeln: Kandidatenwerbung auf Plakatwänden und Litfasssäulen ist in diesem Jahr verboten. Die beliebten Kandidaten-T-Shirts – von der ärmeren Bevölkerung gerne bis zur nächsten oder übernächsten Wahl getragen – sind in diesem Jahr verboten. Sogar kleine Kandidatenwerbegeschenke wie Kugelschreiber und Schirmmützen sind verboten. Und zum Glück sind auch die Lärmautos verboten. Lärmautos heißen auf Portugiesisch „Carros de som“ und sind eine Analphabeten-Erfindung: Weil jeder zehnte Brasilianer funktionaler Analphabet ist, kommen gedruckte Werbebotschaften nur bedingt beim potentiellen Wähler an. Das „Carro de som“ ist ein beliebiger Pkw, auf dessen Dach möglichst potente Lautsprecher geschraubt werden. Live übers Mikro in der Hand des Fahrers oder vom Band dröhnen die Werbespots in den Haushalt jedes Anwohners, an dem der mobile Werbetröter vorbeirollt: Morgens beim Zähneputzen erfahre ich so die neuesten Sonderangebote des Supermarkts Santo Agostinho, gipfelnd in der Aussage: „Die besten Angebote, todo dia, jeden Tag.“ Manche Nachbarn begrüßen sich schon so, mit „todo dia, todo dia“ anstatt „Guten Tag“.

Was den Politikern bleibt zur Selbstdarstellung? Private Räume. Das können auch private Heckscheiben sein. Von den Autos sämtlicher Politikerfamilienmitglieder strahlen Kandidaten. Die Gartenmauern all derjenigen, die sich einer offensiven Bitte nicht verschließen können, sind mit Namen und Nummern vollgepinselt. Auf dem Capibaribe-Fluss mitten in der Millionenstadt Recife trudeln Fischerboote, deren Segel Kandidatennamen tragen. Und an manchen Ampeln stehen Clowns mit Bambusstäben, zwischen denen sie bei jeder Rotphase mobile Transparente spannen. Mobil ist fast schon privat.

Privat ist auch die Wahlkampf-Sendezeit in Brasiliens größtem TV-Kanal Rede Globo. Geschickt in die Abendnachrichten eingeblockt, sprechen die Politiker zum Volk. Doch das Volk hört nicht zu. Weil die meisten einfach den Ton abdrehen, laufen die Spots inzwischen mit Untertiteln. Interessieren aber trotzdem kaum jemanden. Drei Themen sind Top-Titel im Marathon der Wahlversprechen: Arbeitsplätze schaffen, das Bildungswesen verbessern, die Kriminalität senken. Alles längst bekannt, längst versprochen und nie umgesetzt.

In diesem Jahr gibt es aber noch ein neues Thema: Ehrlich sein. „Ich klaue nicht, ich lüge nicht, ich bin nicht bestechlich“, verspricht Präsidentschaftskandidatin Heloisa Helena. Bis vor einiger Zeit hat die regierende PT das Monopol darauf beansprucht, Gutmenschen, Ethik-Apostel und korruptionsfreie Idealisten zu beherbergen. Dann kamen die Skandale. Der größte, der Mensalao, zeigte, daß mehr als ein Drittel des ganzen Senats in ein ausgeklügeltes Bestechungs-System verwickelt war. Minister nahmen an Treffen zum Organisieren der Korruption teil, Regierungsmitglieder wurden mit Dollarpaketen in der Unterhose gestellt, Abgeordnete ließen sich dafür bezahlen, daß sie bedürftigen Gemeinden mit öffentlichen Geldern Krankenwagen verschafften. Und jetzt die Geschichte mit dem Dossier. Hauptdarsteller: Alles ehrliche Ptler.

Lula sagt, er weiß von nichts, alle haben ihn betrogen. Und die Gegenkandiaten behaupten: Wir sind aber wirklich ganz ehrlich! Ehrlich sein ist eine tolle Sache. Jeder einzelne der ehrlichen Oppositionspolitiker oder jeder ehrliche Kandidat oder jede ehrliche Kandidatin könnte – um der Ehrlichkeit zum Sieg zu verhelfen - ein Impeachment des Präsidenten beantragen. Sogar ein ganz normaler Bürger kann das nach brasilianischem Recht. Macht aber keiner. Statt dessen sind Lulas Umfragewerte heute wieder auf über 50 Prozent gestiegen. Da könnte man doch wirklich gleich den Wahlkampf komplett verbieten.

Sonntag, 5. Februar 2006

Als ich letztens Talentscout war

Der Fußball von Salvador ist die Musik. Die meisten Jungs in Brasilien träumen ja davon, Fussballstar zu werden. Weil das der Lotteriegewinn für große Träumer aus kleinem Elternhaus ist. Also kicken die Brasilianer allüberall, am Strand, im Urwald, im Schlamm. Natürlich spielen auch die Bahianer Fußball. Nur haben sie aktuell nicht mal einen Zweitligaverein vorzuweisen. Vielleicht hat es damit zu tun, daß sich die Leute in Salvador gerne einen anderen Traum aussuchen: Den von der großen Karriere als Musiker.

Vor der Tür der Musikschule Pracatum in Salvador drängen sich die Träumer und Träumerinnen. Da hängen die neuen Kurslisten, Meilensteine auf dem Weg zum Ruhm. Die Musikschule gehört dem Sänger und Komponisten Carlinhos Brown, und der hat es schon lange geschafft. Ich bin hier, um Carlinhos Browns Projekte kennenzulernen. Plaudere ein bißchen mit ein paar Mädels, die noch nicht wissen, ob sie die Aufnahmeprüfung geschafft haben, und muss dann weiter Richtung Tonstudio, um den Meister zu treffen. Da läuft mir eine der beiden Nachwuchsmusikerinnen nach und hält mir ihr Schulheft hin: „Bitte gib mir ein Autogramm“. Hey, ich bin nicht berühmt, Mädchen! Da muß ein Mißverständnis vorliegen! „Nein bitte, ich will so gerne eine Unterschrift von dir“. Komme mir ein bißchen lächerlich vor, als ich meinen Namen in ihr Heft kritzele - aber arrogant abzulehnen geht ja irgendwie auch nicht.

Vor der Tür des Tonstudios sitzt ein grauhaariger Mann. Ja, der Meister ist da drin, bestätigt er mit glücklich leuchtenden Augen und zeigt mir die Klingel. Drinnen spricht Carlinhos von seinen Träumen, von mehr schwarzem Selbstbewusstsein und von Musik und Aufmerksamkeit und Mitgefühl in der Welt. Darüber vergißt er, so konkret zu werden, wie das Journalisten gerne hätten. Das kommt morgen!, verspricht er. Denn der große Visionär hat über seinen Ideen die Zeit vergessen und muß jetzt weg. Küßchen und tschüs. Draussen ist es dunkel. „Na, kommt er gleich?“, fragt der grauhaarige Mann, der immer noch da auf der Bank sitzt. Er spielt nämlich Gitarre und singt und hat soeben privat seine erste CD aufgenommen. Die will er gleich Carlinhos Brown geben. Wenn der hoffentlich zum Haupteingang raus geht. Sonst kommt der Grauhaarige morgen wieder und wartet weiter auf seine Chance.

Ich bin kaum zwei Schritte gegangen, da treffe ich meine Autogrammjägerin. Zusammen mit einer Freundin kommt sie auf mich zugerannt: „Kannst du uns deine Adresse geben?“, bittet sie. „Wir wollen dir etwas schicken!“ Was habe ich nur getan, um die beiden so zu beeindrucken? Ich gebe ihnen eine Visitenkarte und gehe zum nächsten Termin. Interview mit Diogo. Diogo ist dreizehn und lernt seit drei Jahren Rhythmusinstrumente, Gesang, Musiktheorie, Gitarre und Tontechnik an der Musikschule Pracatum. Übt stundenlang jeden Tag. Fehlt nie. Den Namen der eigenen Band kann Diogo erst nach heftigem Nachdenken fehlerfrei schreiben. Als Musiker ist der Dreizehnjährige beeindruckend erfahren, hat schon mit Carlinhos Brown gespielt, ist schon in Rio de Janeiro aufgetreten und sogar einmal in Spanien. Natürlich träumt Diogo davon, Profimusiker zu werden. Einer mehr hier in Salvador: Allein in Diogos Stadtviertel mit seinen paar Tausend Einwohnern gibt es mehrere Musikschulen, ungezählte Bands und noch mehr Träumer. Wie viele Musiker in Salvador von der Musik leben können, hat niemand gezählt. Wegen der vielen Karnevalsbands mögen es ein paar mehr sein als anderswo. Ich hoffe, Diogo wird einmal dazu gehören.

Als ich mich von Diogo verabschiede, löst sich ein Schatten aus dem Dunkel – wieder die Mädels. Eine der beiden drückt mir einen Umschlag in die Hand: „Das ist unsere CD! Wir haben nämlich eine Forró-Band! Die mußt du dir unbedingt anhören!“ Na klar! So ist das! Musik ist der Fußball Salvadors. Der Lotteriegewinn für große Träumer aus bescheidenen Elternhäusern. Bei so großen Träumen kann eine deutsche Journalistin schon mal unverhofft in die Rolle eines internationalen Talentscouts geraten. Und jetzt? Wie weiter? Möchte jemand eine Forró-Band aus Salvador produzieren? Bitte melden!

Dienstag, 10. Januar 2006

Doch kein Treffen mit dem Papst

Gestern ging es schief. Bis gestern war der 28jährige Erivandro Férrer de Lima durch das Hinterland des Bundesstaates Ceará gezogen. Das Hinterland des Ceará ist so trocken, dass die Bauern dem Vieh in manchen Sommern Kaktusse zu fressen geben, weil die wenigstens einen Rest Wasser enthalten. Meistens verdurstet in der wüstenähnlichen Steppe trotzdem ein Teil der Herde. Manchmal verhungern Kinder. Im Inneren des Ceará glauben die Menschen inniger als anderswo. Es bleibt ihnen sonst nicht viel Hoffnung.

Da kommt einer wie Erivandro gerade recht. Einer, der feurige Messen betet, mit den Bewohnern der abgelegensten Winkel. Wo es einen Pfarrer gibt, betet er mit dem zusammen. Und dann erzählt er von der großen Karawane der Gläubigen, die er gerade zusammenstellt. Diese einzigartige Karawane soll im Mai im Bundesstaat Sao Paulo im Süden des Landes mit Papst Bento XVI zusammentreffen. Den Papst sehen! Wer wollte das nicht? Was für ein unerhoffter Lichtblick im Steppenleben! Nicht ganz billig zwar, aber Sao Paulo ist weit und der Papst kommt nicht alle Jahre vorbei. 175 Reais – die Hälfte eines Monatslohns von einem Landarbeiter – verlangt Erivandro als Anzahlung. Weitere 375 Reais sollen die potentiellen Karawanenmitglieder in fünf Raten bezahlen. So wirbt der begnadete Redner nach jeder Messe. Und die Gläubigen zahlen an und freuen sich und können ihr Glück kaum fassen.

Die fünf Rest-Raten werden jetzt allen erlassen. Denn gestern ging es schief. Da wollte Erivandro zwei Damen vom Verkehrsamt Detran für seine Karawane gewinnen. Vielleicht hatten sich seine Argumente schon abgenutzt. Vielleicht hatte er einen schlechten Tag. Vielleicht paßte er einfach nicht in die Stadt mit seinen Versprechungen. Die Damen jedenfalls machten, was nicht einmal den Pfarrern im Inneren des Ceará eingefallen war: sie wurden misstrauisch. Trotz der sanften Worte des Erivandro riefen sie die Polizei. Das störte den professionellen Papst-Treffer zunächst wenig: er zeigte den Uniformierten einfach einen hübschen Ausweis der brasilianischen Bischofskonferenz. Doch der überzeugte die beiden Gesetzeshüter nicht. Da behauptete der Mann, er gehöre der Brasilianischen Freikirche an. Die gehört gar nicht zur Bischofskonferenz. Als das auch nichts half, und der Pseudo-Prediger tatsächlich eine offizielle Aussage machen mußte, leugnete er rundweg alles, was er vorher gesagt hatte und gab statt dessen an, er studiere seit 2003 Philosophie in Belo Horizonte. Eingesperrt wurde er trotzdem.

Nun wird es keine Karawane der Gläubigen geben. Wahrscheinlich wird keiner der Menschen vom Inneren des Ceará den Papst Bento XVI treffen. Aus ist es mit dem unverhofften Lichtblick im Steppenleben. Wäre nicht gestern alles schief gegangen, womöglich wäre der falsche Prediger Erivandro tatsächlich mit den Gläubigen nach Sao Paulo gefahren. Die Pfarrer hatte er schließlich alle überzeugt. Warum müssen sich die öffentlichen Angestellten nur immer in alles einmischen!
 
Add to Technorati FavoritesBloglinks - Blogkatalog - BlogsuchmaschineBrasilien