
Nach Karneval sind in Brasilien die Sommerferien endgültig vorbei, und der Unterricht geht wieder los. Nicht so hier im Dorf. Hier wird der Unterricht voraussichtlich Anfang März wieder beginnen. Wenn bis dahin das neue Dach auf der Schule ist. Den ausgefallenen Unterricht sollen die Schüler dann im Juli nachholen – wenn alle anderen Winterferien haben. Das ist psychologisch nicht sehr geschickt und kann auch noch zu anderen Schwierigkeiten führen: Schüler, die mit dem Bus zur Schule fahren, bekommen für diese Fahrten staatlich finanzierte Wertmarken. Da im Juli allgemein unterrichtsfrei ist, werden für diesen Monat solche Marken gar nicht erst gedruckt. Ob daran schon jemand gedacht hat? Ob dann nur für eine einzige Schule die Druckerei angeworfen wird?
Für unbeteiligte Zuschauer wie mich, ist es nicht so richtig nachvollziehbar, wieso es zu diesem Problem überhaupt kommen musste. Das Dach, so meine ich, hätte doch einfach bereits am ersten Ferientag, Ende Dezember, abgedeckt werden können. Dann wäre jetzt längst alles fertig. Stattdessen wurde es erst vor Karneval abgedeckt, also am ersten Schultag nach den großen Ferien. So geraten die Dachdecker obendrein noch in die ersten Regenfälle, die traditionell hier im Nordosten nach Karneval nieder gehen. Vermeidbare Komplikationen, könnte man meinen.
Kürzlich veröffentlichte die Unesco ihren jährlichen Weltbildungsbericht, der die weltweiten Fortschritte auf dem Weg zum Milleniums-Ziel „Bildung für alle“ misst. Darin zeigte sich, dass Brasilien insgesamt weit mehr im Verzug ist als mit einem Schuldach. Das größte Land des südamerikanischen Kontinents, das die globale Krise so außergewöhnlich gut überstanden hat, und das wirtschaftlich in so rasantem Tempo auf die vorderen Plätze im weltweiten Vergleich vorprescht, liegt im Bildungsvergleich auf dem 88. Platz. Hinter den ärmsten Ländern Südamerikas wie Bolivien, Ecuador und Paraguay.
Eine andere Untersuchung zeigte, dass die besten Pädagogik-Studenten eines Jahrgangs sich nicht für den Lehrer-Beruf interessieren. Kein Wunder. Grundschullehrer verdienen hierzulande immer noch kaum mehr als den gesetzlich festgesetzten Mindestlohn von momentan umgerechnet rund 200 Euro. Davon kann keine Familie leben. Die Unesco-Untersuchung über Lehrer in Brasilien belegt, dass die Hälfte der brasilianischen Lehrer aus Familien der Unterschicht stammt, und 68 Prozent selbst ausschließlich staatliche Schulen besucht haben. 81 Prozent sind Lehrerinnen. Obwohl das Gesetz auch bei Grundschullehrern eine universitäre Ausbildung vorschreibt, haben die heute angestellten Lehrer im Schnitt 14 Jahre Schul- und Unibesuch vorzuweisen – nicht genug für einen Universitätsabschluss, meist nicht einmal genug für Kenntnisse in nur einer Fremdsprache. 20.000 Lehrer haben maximal acht Schuljahre absolviert. Laut einer Schätzung des Bildungsministeriums sollen mehr als eine halbe Million Lehrer ohne ausreichende Ausbildung lehren. Solche Daten verbreitet die brasilianische Regierung naturgemäß nicht so gern.
Bislang ging es der Regierung Lula hauptsächlich darum, möglichst viele Schüler überhaupt zum Schulbesuch zu bewegen. Dafür war die Unterstützung „Bolsa familia“, die nur ausgezahlt wird, wenn die Schule regelmäßigen Besuch bescheinigt, eine große Hilfe. Heute besuchen 97,6 Prozent der schulpflichtigen Kinder tatsächlich eine. Und die restlichen 680.000 werden innerhalb eines speziellen Programms gerade vom Erziehungsministerium identifiziert – vor allem unter der indigenen und der ländlichen Bevölkerung. Diese Zahlen werden regelmäßig gefeiert und sind ja auch wirklich schön anzusehen.
Langsam ist es also an der Zeit, genauer nachzufragen, was die Schulbesucher in der Schule eigentlich tun: Nahezu ein Drittel aller Schüler besucht eine Klasse, die dem jeweiligen Alter nicht angemessen ist. Jeder fünfte bleibt mindestens einmal sitzen. Jeder vierte Brasilianer über 15 Jahre ist funktionaler Analphabet: Er kann zwar einfache Sätze lesen und zu Papier bringen, ist aber nicht in der Lage, komplexere Texte zu verstehen oder eigene Ideen schriftlich auszudrücken.
Wie viel Hoffnung darf man haben, dass es einem Land gelingt, die öffentliche Bildung zu verbessern, wenn es einer Dorfschule nicht möglich ist, nötige Renovierungsarbeiten in die Ferien zu legen? Oder vergleiche ich da gerade Eier mit Nüssen?
foto: wollowski