
Tatsächlich bin ich im Jammerthal gar nicht gewesen. Nur in Walachai, im Batatenthal, im Frankenthal und in Padre Eterno. Aber das macht wenig Unterschied: es sind allesamt winzig kleine Gemeinden im südbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul. Und in allen leben Nachkommen deutscher Einwanderer aus dem Hunsrück. Sie sprechen bis heute einen Dialekt, den sie als
Hunsrückisch bezeichnen. Hochdeutsch lernen manche der Kinder neuerdings in der Schule. Portugiesisch lernen die meisten auch erst in der Schule – und sprechen es zeitlebens mit einem harten deutschen Akzent.
Walachai – ganz weit weg also, nannte der erste Einwanderer damals den von ihm gegründeten Ort, weil er eben ganz weit weg war – von der Küste, von den Städten. Von der globalen Marktwirtschaft sind die hunsrückischen Dörfer bis heute ziemlich weit weg. Und das ist gut so. Die Einwohner bearbeiten den Boden der vielen Hügel mit Gerätschaften wie aus dem Mittelalter: Pflügen mit Ochsen, fahren mit Ochsenkarren, dreschen das Bohnenstroh mit dem Dreschpflegel, melken von Hand und stapfen die Butter im
Budderfass. Klingt ganz schön rückständig. Dabei haben die Jammerthaler, die Walachaier, die Batatenthaler und die Frankenthaler uns einiges voraus.
Damals, als die 70,80 Kilometer, die die Gemeinden heute von der Großstadt Porto Alegre trennen, noch eine lange Reise erforderten, haben die Einwanderer sich angewöhnt, alles selbst zu machen. Reis zu pflanzen und Kartoffeln, Bohnen und Gurken. Sie sägten die Bretter selbst, aus denen sie ihre Häuser auf einem Fundament aus selbst gesammelten Feldsteinen errichteten. Sie machten ihren Käse und ihre Butter selbst und ließen Zitronensaft mit Zucker und Wasser zu Spritzbier vergären. Sie rollten ihren Tabak selbst, den sie in getrockneten Maisblättern zum Palheiro rollten, und schmiedeten ihre Pflugmesser ebenso archaisch auf dem offenen Feuer wie die eiserenen Beschläge der Ochsenkarren. Jeder hatte seine eigene Trinkwasserquelle oder wenigstens einen sauberen Bach im Garten. Geld hatten die meisten keines: Sie brauchten auch selten welches.
Wie die meisten Eltern denken auch manche Walachaier, ihre Kinder sollen es einmal besser haben. Mit „besser“ meinen sie „fortschrittlicher“. Deswegen zog Vater Zilles mit seinen Töchtern irgendwann in die Stadt. Und die kleine Rejane weinte, weil sie Heimweh hatte und von den Klassenkameraden als „Kartoffeldeutsche“ gehänselt wurde. Später wurde Rejane Zilles Schauspielerin im großen Rio de Janeiro. Und noch später kehrte sie mit einem Filmteam zurück in ihr Dorf Walachai. Wo ihr Onkel Lídio immer noch mit dem Ochsenkarren aufs Feld fährt. Wo die Menschen immer noch wenig Geld haben. Und trotzdem ganz unglaublich glücklich aussehen.

Durch eine Verkettung von Umständen habe ich Rejane in Rio kennengerlernt, als die Dreharbeiten gerade abgeschlossen waren. Und jetzt, zwei Jahre später, bin ich mit ihr in den Süden gefahren, zur Premiere ihres Dokumentarfilms mit dem Titel „Walachai“. Ein Filmkritiker aus Porto Alegre fand, Rejane habe einen übertrieben dramatischen Soundtrack gewählt - vermutlich meinte er damit den ständigen Vogelgesang, der die Bilder untermalt. Bei meiner Reise habe ich gemerkt: Der ist nicht gewählt. Der ist echt. Den Film kannte ich schon, weil ich vor ein paar Monaten die Untertitel ins Deutsche übersetzt habe. Beim ersten Mal sind mir beinahe die Tränen gekommen, als ich die Menschen gesehen habe, in ihrer so gar nicht zeitgemäßen Unverstelltheit. Jetzt, in Walachai, im Batatenthal, im Frankenthal und in Padre Eterno, habe ich die Personen aus dem Film live erlebt.

Habe mit Cousine Silvane Zwiebeln geerntet und mit Tio Lídio gepflügt. Habe der alten Bertha dabei zugesehen, wie sie die Glocken der Dorfkirche läutet, und habe mit der jungen Inadia
Kartoffelkichelche gegessen, die sie auf dem Holzofen in selbstgemachtem Schmalz gebraten hat.
Es macht nichts., dass ich das Jammerthal dabei nicht kennengelernt habe. Das unwahrscheinliche Glück der Menschen in den einsamen Tälern habe ich auch so erlebt. Ich mag gar nicht versuchen, es zu erklären. Nur staunen und dankbar sein, dass ich es kennenlernen durfte. Silvane sagt: „Ich werde hier nie weggehen. Höchstens im Sarg.“ Recht hat sie.
PS. Über meine Reise wird – irgendwann in 2010 – ein Text im Reiseteil der Süddeutschen Zeitung erscheinen. Der Dokumentarfilm „Walachai“ von Rejane Zilles ist bei diversen Filmfesten in Deutschland eingeschrieben, bislang ist noch nicht entschieden, ob und wo er laufen wird.
fotos: wollowski (oben: Onkel Lídio mit seinem Ochsengespann; mitte: Silvane beim Zwiebeln Ernten; unten: seit 35 Jahren glücklich verheiratet: Cleci und Werno Hoffmann)