
Wut macht blind. Wissen wir alle. Vergessen wir ebenso alle, wenn es wieder einmal passiert. Wie in der vergangenen Woche. Eine 26jährige Brasilianerin sei in Zürich von Neonazis angegriffen worden, berichteten die brasilianischen Medien. Brutal mit einem Stilett zerschnitten. Die Misshandlungen hätten einen Spontanabort ausgelöst, direkt auf der Bahnhofstoilette habe die Juristin die Zwillinge verloren. Eine schreckliche Geschichte. Kein Wunder, dass der Fall vielerorts Diskussionsthema Nummer eins war - auch in dem kleinen Fischerdorf im Ceará, in dem ich gerade recherchierte.
„Was ist da los in Europa“, fragten die Leute entsetzt und ungläubig. Was sollte ich sagen? Fremdenfeindliche Gräueltaten sind ja leider auch in Deutschland schon häufiger vor gekommen. Kurz: Ich war ebenfalls entsetzt. Noch mehr, als es hieß, die Schweizer Polizei zweifle an der Aussage der Paula Oliveira und hege den Verdacht, die junge Frau aus Recife habe sich die Verletzungen selbst beigebracht. Absurd, ein Opfer, das bei der Polizei Anzeige erstattet, als Selbsttäter zu verdächtigen. Absurd, Beweise für eine offensichtliche Attacke zu verlangen. Fanden die Fischer. Fand ich auch. Peinlich für die Schweizer. Peinlich für alle Europäer. Sogar der brasilianische Präsident hatte gesagt, er könne nicht schweigen angesichts eines solch brutalen Angriffs auf eine Brasilianerin. Notfalls würde die brasilianische Regierung den Fall vor der UNO verhandeln.
Als ich von meiner Recherchereise zurück kam, klang die Geschichte ein wenig anders. Da erklärte der Vater von Paula in den TV-Nachrichten, er wisse nicht, ob es Beweise für die Schwangerschaft seiner Tochter gebe. Die Untersuchung durch den Schweizer Gerichtsmediziner hatte nämlich inzwischen ergeben, Paula sei zum Zeitpunkt des Überfalls gar nicht schwanger gewesen. Und überhaupt sei nicht klar, ob es einen Überfall gegeben habe: sämtliche Verletzungen seien oberflächlich und befänden sich an Körperteilen, die Paula problemlos selbst hätte erreichen können. Selbst erreichen können, muss nicht heißen, dass Paula sich selbst verstümmelt hat. Kann es aber.
Angesichts dieses Vorwurfs kochten die Emotionen erst richtig hoch. Da ließ sich sogar die ansonsten sehr seriöse
Folha de Sao Paulo dazu verleiten, den Gerichtsmediziner mit Worten zu zitieren, die dieser nicht von sich gegeben hat. Andere Blätter vermelden widersprüchliche Geschichten: Einmal sollen sich Polizisten noch im Krankenhaus bei Paula und der brasilianischen Konsulin entschuldigt haben. An anderer Stelle leugnet die Konsulin, bei einem solchen Gespräch je anwesend gewesen zu sein. Einmal sagt Paulas Vater angeblich aus, die Fotos von den Verletzungen seiner Tochter habe dessen Verlobter auf seine Anregung hin aufgenommen. An anderer Stelle heißt es, der Vater habe mit dem Verlobten kaum gesprochen und dieser sei seit dem Vorfall spurlos verschwunden. Einmal heißt es, eine Arbeitskollegin wisse sicher, dass Paula ihren ersten Frauenarztbesuch zur Kontrolle der Schwangerschaft für den Tag nach dem Überfall geplant habe – wie hätte sie also wissen können, dass es Zwillinge und Mädchen sein würden? Anderswo wiederum wird erklärt, es gäbe eine Ärztin, die die Schwangerschaft begleitet habe, und mit der sei Paulas Vater in Kontakt.
Sieben Tage sind seit dem Vorfall vergangen. Während vor vielen brasilianischen TV-Geräten und an brasilianischen Kneipentischen bereits das gesamte Schweizer Volk des feigen Vertuschens beschuldigt wurde, haben andererseits auf manchen Internetseiten Schweizer User böse über die schwerwiegenden Anschuldigungen geschimpft, die aufgrund der Aussage einer psychisch Gestörten leichtfertig gegen ihr Volk vorgebracht würden. Die Schweizer Polizei bleibt äußerst zurückhaltend in ihren Aussagen. Die brasilianische Presse hat ihren Ton so weit zurück geschraubt, dass manche Medien eine Selbstverletzung nicht mehr komplett ausschließen. Gesicherte Erkenntnisse? Scheint es kaum zu geben. Zweifel? Immer mehr. Kann es sein, dass abends um 19 Uhr 30 eine Bahnstation im Großraum Zürich bereits so verlassen war, dass niemand die massiven Angriffe beobachtet hat? Wir ist es möglich, dass Paula während ihr schmerzhafte Schnittwunden zugefügt wurden, so still hielt, dass ihre Aggressoren säuberlich Buchstaben in ihre Haut ritzen konnten? „Paula ist ein Opfer“, zitiert der brasilianische
Internetserver IG ihren Vater: „entweder ein Opfer von schweren psychologischen Störungen oder ein Opfer der Angriffe, von denen sie seit dem Anfang berichtet und an denen zu zweifeln ich keinen Grund habe.“
Sollte Paula Oliveira die Neonazis erfunden und sich selbst geschnitten haben, können sich viele schämen. Für die Vorverurteilung der Schweizer. Für ihre mangelnde Kritikfähigkeit. Für ihre blinde Wut. Ich gehöre auch dazu. Genau so blind wäre es allerdings, würden die Schweizer in einem solchen Fall sich auf den Triumph beschränken: Haben wir doch gleich gewusst.
In den letzten fünf Jahren hat es mehr als 200 rassistisch begründete Angriffe in der Schweiz gegeben, so der Schweizer Soziologe Jean Ziegler. Und die Schweizer Volkspartei, deren Initialen SVP in die Haut von Paula geritzt sind, benutze Fremdenfeindlichkeit tatsächlich als politisches Mittel. Das heißt: Grundsätzlich wäre wohl ein neonazistischer Angriff auf eine Brasilianerin in der heutigen Schweiz nicht unmöglich. Das ist schlimm. Egal, ob der Vorfall um Paula Oliveira nur in ihrer Vorstellung Realität gewesen sein mag. Und es sollte Grund genug sein, nicht für blinde Wut, sondern für überlegte Handlungen.
Foto: Marco Trapp