Samstag, 24. April 2010

Hat der nichts zum Anziehen? Eine altmodische Liebesgeschichte


Es geht auch anders. All die Geschichte von winzigen Bikinis, pornographischen Songtexten und minderjährigen Müttern mögen wahr sein, sie zeigen nur eine Seite. Die andere hat mir kürzlich eine Bekannte erzählt. Ihre Geschichte ist gerade mal 14 Jahre alt. Da ist die junge – nennen wir sie Andrea – mit ihrer Cousine in ein Dorf am Strand gefahren, weil es dort eine interessante Quadrilha geben sollte. Quadrilhas sind zum einen Banditenbanden, zum anderen Tanzgruppen, die zu den in Brasilien sehr beliebten Junifeiern höfisch inspirierte Tänze in aufwändigen Kostümen aufführen. Das Quadrilha-Tanzen war das liebste Hobbie der 18-jährigen Andrea.

Sie Jungs auf dem Dorf tanzten gut. Und sie sahen neugierig nach den Neuzugängen. Die beiden Cousinen sahen neugierig zurück und tuschelten in den Tanz-Pausen: „Hast du die Beine von dem da drüben gesehen?“, fragte Andrea, „so muskulös… den würde ich gerne mal kennenlernen!“ Sie hatte wohl zu laut getuschelt, jedenfalls fragte der mit den muskulösen Beinen sie in der Woche darauf, ob sie ihn immer noch gern kennenlernen wollte. Danach verstummt er, wie erschrocken über den eigenen Mut.

Es dauerte eine weitere Woche, bis Andrea mit ihm ins Gespräch kam. Danach plauderten sie gelegentlich vor oder nach den Proben. Rauschten Blicke, die anderes versprachen. Nur Blicke. Andreas Tanzpartner war ein hochaufgeschossener Magerer, dessen Hände auf ihrem Rücken wie kalte Fische lagen. Nach Monaten brachte – nennen wir in Gilberto – es über die Lippen: „Willst du meine Freundin sein?“ Andreas Antwort war eindeutig: „Dann musst du aber zuerst zu meiner Mutter in die Stadt fahren und sie bitten, dass du mit mir gehen darfst.“ Gilberto schluckte. Dann ließ er sich erklären, wie er zum Haus von Andreas Mutter gelangte.

Andrea hatte schon nicht mehr damit gerechnet, als Gilberto eine Woche später plötzlich vor ihrer Tür stand. Baseballkäppi so tief ins Gesicht gezogen, dass von seinem Gesicht nicht viel zu erkennen war, die Hände tief in den Taschen der Bermuda vergraben, schweigend. „Wenn gleich meine Mutter kommt, musst du aber schon was sagen!“, erklärte Andrea besorgt, während die Mutter bereits hinter ihr gucken kam, wer der Überraschungsbesuch war. Andrea ließ die beiden allein. Eine Ewigkeit später verabschiedete ihre Mutter Gilberto, schloss die Tür hinter ihm, kam zu Andrea und fragte: „Ist ja ein netter Kerl, aber sag mal, hat der nichts Anständiges anzuziehen?“

Das ist wie gesagt 14 Jahre her, inzwischen ist Andreas und Gilbertos Tochter 13, ein Alter, in dem schon einige Jungs neugierig auf ihre schlanken Beine gucken. „Wer mal mit meiner Tochter gehen will“, sagt Gilberto streng, „der muss sich erst mal hier in mein Haus trauen, um zu fragen, ob er das darf. Und dass der mir nicht in kurzen Hosen ankommt!“

Samstag, 17. April 2010

Skalpierte Frauen

Zurzeit läuft in Nordbrasilien eine Kampagne gegen das Skalpieren. Ja, in Brasilien wird bis heute skalpiert. Gar nicht mal selten. Vollständige Erhebungen gibt es nicht, aber es sind wohl mindestens 50 Skalps jedes Jahr, die vor allem im Norden vor allem Frauen und Mädchen vom Kopf gerissen werden. Im Norden nicht etwa deswegen, weil dort besonders viele Indiostämme besonders blutige Bräuche pflegen, sondern weil dort viele Menschen unter bescheidensten Umständen auf Booten leben.

Wer auf einem Boot lebt, verrichtet dort alle Alltagstätigkeiten, vom Waschen und Kochen bis zum Zähneputzen und Haare-Kämmen. In Brasilien hat der Kurzhaarschnitt für Frauen bestenfalls in Metropolen wie Sao Paulo oder Rio bescheidenen Einzug gehalten, für die absolute Mehrheit der Brasilianerinnen ist eine üppige lange Mähne der Inbegriff von weiblicher Schönheit. So auch für die meisten Bootsbewohnerinnen. Wenn diese während der Fahrt auf ihrem Boot ihre langen Haare kämmen, passiert es: Das Haar verfängt sich in der Schraube des ungeschützt offenliegenden Motors, wird aufgewickelt bis an die Haarwurzel – und dann reißt die Motorkraft der Frau den Skalp vom Kopf. Manchmal nur einen Teil der Kopfhaut mit Haaren, manchmal die kompletten Haare, manchmal inklusive Augenbrauen oder sogar Ohren und Teilen der Gesichtshaut. Manche Frauen sterben an den Unfallfolgen, alle werden grausam verunstaltet.

Viele Familien haben nicht genug Geld, der Verletzten eine Perücke zu kaufen, manche kümmern sich aus Abscheu nicht einmal mehr um die Unfallopfer ihrer Familie im Krankenhaus. Die verunstalteten Frauen leben im Abseits der Gesellschaft, finden nur unter großen Schwierigkeiten Partner oder einen Job. Allein im Bundesstaat Amazonas sind schätzungsweise 100.000 Boote mit Personen unterwegs –ein Drittel davon außerhalb jeder Kontrolle. Bislang hat die Vereinigung der skalpierten Frauen 1400 Opfer gezählt, die Dunkelziffer dürfte weit darüber liegen.

Anfang 2010 hat Lula ein Gesetz verabschiedet, das den 28. August zum Tag des Skalpierens erklärt. Kürzlich wurde zudem beschlossen, dass den Skalpierten eine gesetzliche Entschädigung von umgerechnet etwa 1450 Euro zusteht. Das ist selbst in Brasilien kaum genug für eine Schönheits-OP, die den Frauen ein normales Aussehen zurückgäbe. Die Vorsitzende der Vereinigung skalpierter Frauen, Maria do Socorro Pelaes Damasceno, verlor ihren Skalp als Siebenjährige und hat bereits diverse OPs hinter sich, in denen ihr Gesicht wieder hergestellt werden sollte. Bislang ohne zufriedenstellendes Ergebnis. „Wir fordern, dass Chirurgen, die OPs zur Wiederherstellung durchführen, in unseren Bundesstaat kommen, denn wir haben nicht die nötigen Mittel, um zu ihnen nach Sao Paulo oder Rio zu reisen“, sagt Maria

Obwohl bereits im Juli des vergangenen Jahres ein weiteres Gesetz verabschiedet wurde, welches den Einsatz ungeschützter Motoren auf Booten verbietet und mit Bußgeldern sowie Bootsführerscheinentzug bestraft, geht das Skalpieren weiter. „Wie sollen wir denn unseren eigenen Vater oder Ehemann anzeigen, wenn dieser unseren Lebensunterhalt verdient?“, gibt Maria do Socorro zu bedenken.

Hat mal jemand daran gedacht, dass der gesetzlich geforderte Schutz zu teuer sein könnte, für Menschen, die sich nach einem Unfall nicht einmal eine Perücke leisten können? Oder dass es vielleicht mehr Wirkung zeigen würde, Schutzvorrichtungen zu stiften, anstatt Strafen zu verhängen?

foto: Die Vorsitzende der Vereinigung skalpierter Frauen, Maria de Socorro, verlor außer ihrem Skalp auch beide Ohren (Antonio Cruz, Agencia Brasil)

Mittwoch, 7. April 2010

Eine Rache für uns alle


Meine Nachbarn haben es sogar live am Radio verfolgt, und sie waren nicht die Einzigen. Wir haben ja in letzter Zeit in Brasilien leider öfter gruselige Verbrechen in den Medien miterlebt. Von dem kleinen Jungen Joao Hélio, der von Autodieben im Teeniealter zu Tode mitgeschleift wurde, über die wohlhabende junge Suzane von Richthofen, die ihren Liebhaber dazu brachte, ihre Eltern umzubringen, bis zum Mord an der jungen Deutschen Jennifer Kloker, als Tochter einer Puffmutter seit jungen Jahren daran gewöhnt, als Ware angesehen zu werden, deren brasilianischer Ehemann und Schwiegervater sie umbrachten, um ihre Lebensversicherung zu kassieren. Aber am meisten schockiert hat die Nation der Tod von Isabela Nardoni.

Vor zwei Jahren starb das 5jährige Mädchen Isabela in Sao Paulo. Sie war im sechsten Stock aus dem Fenster gestürzt und erlag kurz nach dem Aufprall auf dem Rasen ihren Verletzungen. Isabela war zu Besuch bei ihrem Vater und dessen neuer Freundin gewesen. Das Paar gab zunächst an, ein Einbrecher habe die Kleine aus dem Fenster geworfen, verstummte aber, als Untersuchungen ergaben, dass Isabela bereits vor dem Fenstersturz Würgemale zugefügt worden waren. Indizien verwiesen auf eine andere Variante als die des Einbrechers. Vaters Neue hatte bereits im Auto mit dem Mädchen gestritten und sie in Folge heftig gewürgt. In der Wohnung angekommen, glaubten Anna Jatobá und Alexandre Nardoni, das Kind sei bereits tot und beschlossen, sich seiner zu entledigen. Der Vater warf seine Tochter, die zu diesem Zeitpunkt noch lebte, aus dem Fenster in den Tod.

Nun ist in Rekordzeit das Urteil gesprochen worden. Wie in Fällen von Mord, Totschlag etc. in Brasilien üblich, von einem willkürlich ausgewählten Geschworenen-Gericht. Recht repräsentativ war es nicht für die brasilianische Gesellschaft: Mindestens vier der sieben Geschworenen sind entweder Studenten oder Hochschulabsolventen. Das Ergebnis dürfte dennoch dem Volk aus der Seele sprechen. „Schuldig“ hieß es für Alexandre Nardoni und Anna Jatobá: Sie wurden zu 31 und 26 Jahren Haft verurteilt, wegen Mordes mit erschwerenden Umständen.

Veja, Brasiliens größtes Nachrichtenmagazin titelt daraufhin: „Verurteilt! Jetzt kann Isabela in Frieden ruhen.“ Muss das sein? Brauchen wir das? Eine Rache für uns alle?

Der Reporter der Zeitschrift meint: Ja. Weil wir uns zwar nicht der illusionären Hoffnung hingeben wollen, es werde keine Schwerverbrechen mehr geben. Aber weil es uns beruhige, zu wissen, dass die Verbrecher ihre gerechte Strafe bekommen.

Das halte ich für ebenso illusionär. Üblicherweise dauern Verfahren in solchen Prozessen viele Jahre. Der Journalist Pimenta Neves, der seine Geliebte erschoss, weil sie sich von ihm getrennt hatte, wartete sechs Jahre in Freiheit auf seinen. Bei Verbrechen aus Leidenschaft kann ein geschickter Verteidiger den Geschworenen sowieso manchmal Mindeststrafen oder gar einen Freispruch entlocken. Und wenn die Angeklagten das nötige Kleingeld haben, werden sie höchstens dann zu Höchststrafen verurteilt, wenn sie ein niedliches kleines Mädchen umgebracht haben. Wie Isabela.

Vielleicht ist das der Triumph des Volks: Ausnahmsweise hat es mal die Wohlhabenden erwischt. Und zwar richtig. Das ist unser aller Rache. Nicht nur für Isabela, sondern für die komplette soziale Ungerechtigkeit.

Fotos: Anna Jatoba und Alexandre Nardoni (oben), Isabela Nardoni und ihre Mutter (unten) - ohne Bildnachweis
 
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